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14. Mai 1994, von Michael Schöfer
Auslandseinsätze der Bundeswehr - Ja oder Nein?


Nach Angaben des Instituts für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg gab es 1993 weltweit mehr als 60 bewaffnete Konflikte, davon kann man 43 als Kriege klassifizieren. Inzwischen sind leider weitere hinzugekommen (Ruanda, Jemen, Mexiko). Angesichts dessen müssen wir uns ernsthaft fragen, ob die Bundeswehr demnächst tatsächlich global militärisch intervenieren soll. Folgt man dem erklärten Willen der Bundesregierung, läuft es nämlich darauf in letzter Konsequenz hinaus. Die Bekundung des Verteidigungsministeriums, in naher Zukunft deutsche Soldaten zur "Krisenbewältigung und Konfliktverhinderung" bereitzuhalten (so die aktuelle Sprachregelung), ist reiner Euphemismus. In Wirklichkeit geht es darum, den "vitalen Sicherheitsinteressen" Deutschlands zu entsprechen (was immer man darunter auch verstehen mag). Nach Ansicht der Hardthöhe impliziert das die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und den ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" (verteidigungspolitische Richtlinien des Bundesverteidigungsministers). Die unzweifelhaft ungerechte Weltwirtschaftsordnung soll also notfalls mit militärischen Mitteln zementiert werden.

Doch in der Sicherheitspolitik geht es nach dem Ende des kalten Krieges nicht nur um Ablehnung oder Befürwortung von Machtpolitik, sondern um die Beantwortung völlig neuer Fragen. Vor allem der Krieg im früheren Jugoslawien hat die ethische Problematik aufgeworfen, ob die übrige Welt aktiv zugunsten der Menschenrechte in das Kriegsgeschehen eingreifen darf oder dem barbarischen Treiben aggressiver Völker tatenlos zusehen soll, ergo einen Genozid (Mord an nationalen, rassischen oder religiösen Gruppen) durch "unterlassene Hilfeleistung" duldet. Die Haltung der in Bonn Regierenden kann nicht die unsere sein, denn für sie ist das Thema nur ein Vehikel zur Durchsetzung von Großmachtinteressen. Dies wird schon dadurch deutlich, wie bereitwillig die Regierung einerseits den Genozid der Türkei am kurdischen Volk durch Waffenlieferungen unterstützt, während sie andererseits die Greuel der Gegner in Somalia scharf verurteilt hat und damit obendrein den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr legitimierte. Der Bundesregierung geht es wahrlich nicht um Menschenrechte, auch wenn sie es ständig betont. Doch davon soll man sich nicht täuschen lassen.

Im Gegensatz dazu sollten Menschenrechte in der Debatte über die zukünftige Sicherheitsstruktur unseres Planeten zumindest bei den GRÜNEN oberste Priorität genießen. Ich weiß, der Vergleich hinkt, dennoch müssen wir uns daran erinnern, daß dem schrecklichen Treiben der Nazis schließlich nur deshalb ein Ende gesetzt wurde, weil andere Völker zur militärischen Intervention bereit waren. Sind wir darüber letztlich nicht froh? Ohne diesen Einsatz wäre das Morden noch lange Zeit weitergegangen. Grundsätzlich gilt: Wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, läuft unweigerlich Gefahr, die gleichen Fehler zu wiederholen. Resultiert daraus jedoch die Verpflichtung zum (unter Umständen globalen) Militäreinsatz? Und wenn ja, ab welcher Konfliktgröße ist es gerechtfertigt, sich militärisch zu engagieren? Schon bei Unruhen, bei einem Bürgerkrieg oder erst nach Ausbruch zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen? Können und sollen wir uns in jeden Konflikt - wohlgemerkt zur Zeit über 60 an der Zahl - einmischen? Wenn nicht, nach welchen ethischen Kriterien wählt man dann aus? Sind 100.000 tote Bosnier weniger entsetzlich als 100.000 tote Ruander? Sicherlich ernstzunehmende Fragen, die auf Antwort warten. Aber mit dem Standpunkt der Bundesregierung bin ich ebenso unzufrieden wie mit dem Beschluß der GRÜNEN, langfristig die Bundeswehr aufzulösen.

Der "sozialen Verteidigung" stehe ich äußerst skeptisch gegenüber, da sie meiner Ansicht nach gegen zu allem entschlossene Widersacher (genaugenommen ist allein das entscheidend) völlig wirkungslos ist. Soziale Verteidigung hat solche Gegner bei Militärinterventionen lediglich kurzfristig behindern, aber am Ende nicht von der Durchsetzung des Interventionsziels abhalten können (z.B. beim Einmarsch der WP-Truppen in die CSSR am 21. August 1968). Gandhi, ein in dieser Diskussion gern zitiertes Modell für erfolgreiche soziale Verteidigung, konnte sich im Endeffekt nur deshalb durchsetzen, weil das Vorgehen der englischen Kolonialmacht gegen die Inder in England selbst in höchstem Maße umstritten war. Der öffentliche Druck im Heimatland hat das englische Engagement in Indien beendet, nicht die zugegebenermaßen (aus der Sicht Englands) lästige Strategie Gandhis. Gegen Hitler wäre sein gewaltloser Widerstand, wie man berechtigterweise annehmen kann, sehr schnell zusammengebrochen.

Um anhand dieses Beispiels in die Gegenwart zurückzukehren: Können wir uns in bezug auf Bosnien den Erfolg von sozialer Verteidigung gegen serbische Nationalisten überhaupt vorstellen? Ich glaube nicht. Konsequenterweise ergibt sich daraus für mich die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten militärischen Struktur, die solche Konflikte - wenigstens bei uns in Mitteleuropa - verhindert. Mit anderen Worten: Ich halte die Bundeswehr auf absehbare Zeit für unverzichtbar. Es geht aus meiner Sicht nur noch darum, Umfang und Form dieser militärischen Struktur zu definieren.

Das Bestreben der Hardthöhe, die Bundeswehr in "Hauptverteidigungs-" und "Krisenreaktionskräfte" aufzuspalten, unterliegt nicht nur haushaltspolitischen Zwängen, sondern soll die Bundeswehr (unabhängig von der Frage der verfassungsmäßigen Grundlage und deren Klärung durch das Bundesverfassungsgericht) für Auslandseinsätze vorbereiten. Aufgabe der Hauptverteidigungskräfte soll es sein, "im Verteidigungsfall gemeinsam mit den Bündnispartnern das NATO-Gebiet zu verteidigen. (...) Die Hauptverteidigungskräfte werden so entwickelt, daß ihre auch bisher für den Verteidigungsfall geplante Kampfkraft erhalten bleibt. Ihre volle Einsatzbereitschaft für diesen Fall wird aber erst durch abgestufte Mobilmachung (...) hergestellt." Unter ihnen ist demzufolge im weitesten Sinne die Bereithaltung einer "Heimatverteidigung" zu verstehen. Die Aufgabe der Krisenreaktionskräfte hingegen besteht u.a. darin, "im Rahmen der Vereinten Nationen und der KSZE Einsätze im gesamten Spektrum von humanitären Maßnahmen bis hin zu militärischen Einsätzen nach der Charta der Vereinten Nationen durchzuführen" (Papier des Verteidigungsministers zur Umstrukturierung der Bundeswehr).

Können Hauptverteidigungskräfte zumindest theoretisch eine reine Defensivkapazität beinhalten, ist das bei den Krisenreaktionskräften anders. Letztere müssen schon von ihrer Struktur her offensiv ausgelegt sein, die Fähigkeit zu weitreichenden Operationen ist hier unverzichtbar. In der Logik der Befürworter von militärischen Auslandseinsätzen ist die Intention des Papiers durchaus folgerichtig. Wer zu globalen Interventionen ja sagt, hat, unabhängig von seinen Motiven (ob rein humanitär oder hegemonial), gar keine andere Wahl. Die Natur der Einsätze bedingt notwendigerweise die Struktur der Streitkräfte. Ohne Offensivstruktur keine Auslandseinsätze.

Da es aber immer das Bestreben der Friedensbewegung war, die Fähigkeit zur militärischen Offensive drastisch zu beschneiden, dürften aus diesem Kreis logischerweise keine Forderungen nach Auslandseinsätzen (etwa im Jugoslawienkonflikt) laut werden. Entsprechende Auffassungen (auch bei den GRÜNEN) sind menschlich gesehen absolut verständlich, politisch sind sie freilich zweifellos kontraproduktiv. Ermöglicht man der Bundeswehr in einer Welt wachsender Verteilungskonflikte raumgreifende Offensiven, werden humanitäre Zwecke (sofern bei den Regierenden überhaupt vorhanden) bald in den Hintergrund gedrängt und ökonomische obsiegen (vgl. II. Golfkrieg). Das ist dann fürwahr eine neue Weltordnung, aber was für eine. Keine, die uns attraktiv erscheint.

Welchem Zweck dient militärische Verteidigung? Geht es darum, nur sich selbst, oder unter bestimmten Bedingungen auch andere zu verteidigen? Die Kardinalfrage und gleichzeitig der klassische Zielkonflikt: globale Verteidigung der Menschenrechte (evtl. unter Inkaufnahme militärischer Aktionen) versus Verhinderung einer extremen Militarisierung der Weltpolitik. Ich möchte die Befürworter von Auslandseinsätzen bei den GRÜNEN nicht als "Bellizisten" verunglimpfen (weil sich deren Position von den unlauteren Absichten der Bundesregierung deutlich unterscheidet), ihre Schlußfolgerungen bewerte ich dagegen aus o.g. Gründen als nicht stichhaltig. Wir müssen vielmehr versuchen, mögliche Konfliktursachen schon im Vorfeld zu beseitigen. Hier denke ich an eine wirklich gerechte Weltwirtschaftsordnung, das Verbot jeglicher Waffenexporte, keine Unterstützung von brutalen Diktaturen, konsequenten Umweltschutz etc. Der Versuch, militärisch Symptome zu bekämpfen, ohne die eigentlichen Ursachen zu eliminieren, ist völlig weltfremd und keinesfalls praktikabel. Gerade das ist jedoch (vermutlich ungewollt) das Ziel der Interventionsbefürworter.

Ich persönlich bevorzuge eine reine Defensivverteidigung, unter Ausschluß jeglicher Auslandseinsätze. Aggressoren ist das gesamte Spektrum an nichtmilitärischen Sanktionen entgegenzuhalten (bis hin zum totalen Boykott), den Einsatz von Waffen halte ich im Gegensatz dazu generell für ungerechtfertigt. Konkrete Hilfe (Aufnehmen von Flüchtlingen, wirtschaftliche Unterstützung der Opfer etc.) ja, militärisches Engagement nein. Wir müssen uns frei machen von der Vorstellung, die ganze Welt nach unseren Maßstäben befrieden bzw. ordnen zu können. Das ist genauso anmaßend wie der Gedanke, allen anderen unseren ökonomischen Gesellschaftsentwurf aufzudrücken. Hierin sind unsere Möglichkeiten - realistisch gesehen - beschränkt, so schwer es auch fällt, das im Einzelfall hinzunehmen. Im Gegenteil: Das militärische Engagement in einem kleinen, lokalen Konflikt provoziert geradezu das Entstehen eines großen, nichtlokalen. Letzterer (Beispiel II. Weltkrieg) darf indes erst gar nicht entstehen (nuklearer Imperativ). Bricht er dennoch aus, ist es angesichts der vorhandenen Massenvernichtungswaffen bereits zu spät. Hier liegt im übrigen der Unterschied zur Situation von 1939/1945. Die Atombombe lehrt uns: In einem großen, nichtlokalen Konflikt wird es keine Sieger geben, nur Verlierer. Demzufolge führt sich jeder Zweck, um dessen Willen er entsteht, selbst ad absurdum. Das ist die Lektion der Geschichte des 20. Jahrhunderts, ob uns das paßt oder nicht.

Ich bin nachdrücklich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Nicht zuletzt aus ethischen Gründen, denn mit welchem Recht, so frage ich, kann man vom einzelnen verlangen, weitab unserer Landesgrenzen sein Leben zu riskieren? Sind wir frei verfügbare Manövriermasse der Regierenden? Natürlich nicht, auch wenn es "die da oben" gerne hätten. Andere in den Tod zu schicken, war schon immer leicht. Im Unterschied zur Politik der Vereinten Nationen in Jugoslawien, würde ich die Opfer der Aggression zumindest in die Lage versetzen, sich selbst zu verteidigen. Insofern neige ich dazu, das Waffenembargo gegenüber Kroatien und Bosnien-Herzegowina aufzuheben. Zugegeben, kein Patentrezept, aber aus meiner Sicht notwendig und der Situation angemessen. So wenig ich sonst Waffenexporte billige, hier hätten sie durchaus ihre Berechtigung (keine Regel ohne Ausnahme). Die Frage freilich, was tun, wenn die Serben Vernichtungslager errichten, bleibt gegenwärtig außen vor. Darauf habe ich, ehrlich gesagt, keine fertige Antwort parat. Möglicherweise müßten wir in einem solchen Fall unsere Politik noch einmal überdenken.