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19. Dezember 1996, von Michael Schöfer
Die Macht des Wortes


Glauben Sie an die Macht des Wortes? Ja? Nun, seien Sie nicht unglücklich, das kann heutzutage jedem passieren. Ich jedenfalls glaube nicht daran, sondern vielmehr an die Macht des Nicht-Wortes. Wie bitte, noch nie gehört? Ein Beispiel gefällig? Also gut:

Es soll ja in Zukunft strafbar sein, in Gegenwart von Bundeswehrsoldaten einen Mann namens Tucholsky zu zitieren. Na, Sie wissen schon... ja, richtig, diesen ganz speziellen Satz, der in Bonn soviel Aufsehen erregt. Steht alles genaugenommen schon im Grundgesetz: "Die Meinungsfreiheit endet mit ihrem Gebrauch" (oder so ähnlich). Das sehen Sie doch hoffentlich ein? Höchstens, Sie gehen gerne in den Knast. Ich zumindest nicht. Die Macht des Wortes ist folglich äußerst begrenzt. Aber gerade hier entfaltet das Nicht-Wort seine ganze Kraft:

"Soldaten sind _ _ _ _ _ _"

Haben Sie's gemerkt? Ungeheuer kraftvoll, finden Sie nicht? Ich hab's Ihnen ja gesagt.

Der eindeutige Gebrauch eines Nicht-Wortes löst hoffentlich sämtliche Probleme, insbesondere die juristischen. Tucholsky wäre sicher stolz auf diese Leistung, aber darauf muß man erst mal kommen. In Zukunft werden wir deshalb in der LIANE konsequent den Gebrauch von Nicht-Worten pflegen, sind ja auch viel dynamischer (denn wer garantiert uns, daß Bundeswehrsoldaten nicht LIANE lesen?).

Es kann dann allerdings sein, daß Sie hier - je nach Gesetzeslage - mehr oder minder große nicht-wort-bedingte Lücken vorfinden werden. Wenn wir künftig selbst von der Kritik an SPD oder CDU Abstand nehmen müssen (im Grund genommen haben die einen wirkungsvollen Ehrenschutz viel nötiger), bleibt die LIANE vermutlich leer. Auch der Gebrauch von Nicht-Worten hat also seinen Preis, aber wir ersparen uns wenigstens immense Druckkosten (der Kassier wird jubeln).

Michael _ _ _ _ _ _ _

Angesichts der prekären Rechtslage erschien mir gerade jetzt der Gebrauch eines Nicht-Wortes unerläßlich. Ich hoffe, Sie (und vor allem der Staatsanwalt) haben hierfür vollstes Verständnis.

PS: Eine Information am Rande. Auch nach der Rechtschreibreform wird "Toleranz" weiterhin nur mit einem "L" geschrieben. Hauptsächlich deshalb, weil viele (siehe oben) Toleranz gar nicht so "toll" finden.

(Zur Erläuterung: Die LIANE ist die Kreisverbandszeitung von Bündnis 90/Die Grünen - KV Mannheim)