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04. Mai 2013, von Michael Schöfer
Experten und Politiker sind wenig lernfähig


Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den ohnehin niedrigen Leitzins noch einmal von 0,75 Prozent auf 0,5 Prozent gesenkt, sie will damit mehr Geld in den Markt pumpen, um die taumelnde Wirtschaft anzukurbeln. Wie zu erwarten war, wird die Zinssenkung zumindest in Deutschland äußerst kritisch kommentiert. So spricht etwa der Spiegel von einem "Alptraum für die deutschen Sparer". [1] "Nach der neuerlichen Zinssenkung dürfte es für Tagesgeld, Sparbuch und Festgeld künftig noch weniger Rendite geben als bisher. Rechnet man die Inflation mit ein, verlieren die Anleger oft sogar Geld." Und natürlich darf hierzulande der Hinweis auf die drohende Inflation nicht fehlen, selbst in der Regionalpresse werden die tiefsitzenden kollektiven Ängste mit Nahrung versorgt: "Angesichts der Geldschwemmen der Notenbank wächst die Sorge über einen Kaufkraftverlust immer stärker. Längst lautet die Frage nicht ob, sondern wann die großen Geldmengen zu einer erhöhten Inflation führen werden. Bei einer Inflationsrate von vier Prozent ist ein Drittel der Kaufkraft binnen zehn Jahren vernichtet." [2]

Hier gilt das Bonmot von John Maynard Keynes: "Langfristig gesehen sind wir alle tot." Die Niedrigzinsphase mag für die deutschen Sparer tatsächlich negative Konsequenzen nach sich ziehen, doch wären sie von einem Kollaps der Wirtschaft natürlich ebenfalls betroffen. Und das sogar viel stärker. An die verheerenden Auswirkungen der gegenwärtigen Austeritätspolitik auf das Wirtschaftswachstum muss ja hier nicht erneut erinnert werden, denn die liegen schließlich - siehe Südeuropa - auf der Hand. Vor diesem Hintergrund ist eine potentielle künftige Schädigung des deutschen Sparers gegen die aktuell grassierende Arbeitslosigkeit abzuwägen. Der Zinssenkungsschritt der EZB ist gewissermaßen die Notversorgung. Wie es mit dem Patient nach Verlassen der Intensivstation weitergeht, ist vorerst ohne Belang. Falls er nämlich sterben sollte, dürfte sich diese Frage erübrigen.

Außerdem muss man mit dem Schüren von Inflationsängsten vorsichtig sein: In Deutschland lag die Preissteigerungsrate im Januar 2013 bei 1,7 Prozent, im Februar bei 1,5 Prozent, im März bei 1,4 Prozent und im April bei 1,2 Prozent. [3] Die Inflationsrate geht also kontinuierlich zurück. Mit anderen Worten: Angesichts der absehbar trostlosen Entwicklung der europäischen Wirtschaft würde ich mir momentan mehr über eine drohende Deflation (allgemeiner und anhaltender Rückgang des Preisniveaus für Waren und Dienstleistungen) Sorgen machen. Die Kritiker der EZB fokussieren ihren Blick auf weit entfernte Gewitterwolken am Horizont, von denen aber noch niemand mit Gewissheit sagen kann, ob sie überhaupt jemals herüberziehen werden. Den hinter ihrem Rücken lauernden Tiger übersehen sie jedoch.

Wie in jeder Krise klammern sich die Bürger gerne an den Rat sogenannter "Experten". Wie rettet man sein Geld? "Experten" geben gerne Anlagetipps. Allerdings sind diese mit Vorsicht zu genießen, denn die "Experten" scheinen vor allem das zu empfehlen, was gerade en vogue ist (und ihnen ganz nebenbei lukrative Profite beschert). Gold dürfe in keinem Depot fehlen, behaupteten sie beispielsweise noch vor kurzem. Die Faustregel, zehn Prozent des Vermögens in Edelmetallen anzulegen, begegnete einem überall und wurde von vielen kritiklos nachgeplappert. Wenn alle Schlaghosen empfehlen, findet man eben selten jemand, der auf Röhrenjeans setzt. Edelmetalle gelten als sicherer Hafen, hieß es. Und sie schützen vor der bösen, bösen Inflation. Dass die zur Befolgung der Faustregel vorhandene Goldproduktion dazu keinesfalls ausreicht, wurde von den "Experten" aber offenbar übersehen.

Die Rechnung ist ganz einfach und lautet wie folgt: 2012 wurden weltweit 2.700 Tonnen Gold produziert. [4] Eine Feinunze sind 31,10 Gramm. [5] Eine Tonne Gold (= 1.000.000 g) sind 32.154 Feinunzen. 2.700 Tonnen Gold entsprechen demzufolge 86,8 Mio. Feinunzen. Bei einem Preis von aktuell 1.470,60 US-Dollar pro Feinunze ergibt das einen Kapitalwert von 127,7 Mrd. US-Dollar. Das Geldvermögen (Bargeld, Bankeinlagen, Ansprüche gegenüber Versicherungen) der deutschen Privathaushalte hat 2012 die Rekordmarke von 4.939 Mrd. Euro erreicht. [6] 4.939 Mrd. Euro sind derzeit 6.477 Mrd. US-Dollar (Wechselkurs von 1,3115 am 04.05.2013). Zehn Prozent davon sind 647,7 Mrd. US-Dollar.

Nicht einmal die gesamte globale Goldproduktion würde ausreichen, den deutschen Privathaushalten die Befolgung der o.g. Faustregel zu erlauben. Von englischen, französischen oder amerikanischen Haushalten ganz zu schweigen. Angaben über Geldvermögen sind naturgemäß ungenau. Glaubt man der Allianz, lag das globale Netto-Geldvermögen (also nach Abzug der Schulden) Ende 2011 bei 71,5 Billionen Euro (93,8 Billionen US-Dollar). [7] Bezogen darauf würde die Faustregel 73,4 Jahresproduktionen Gold entsprechen. Anders ausgedrückt: Die Empfehlung der "Experten" ist unsinnig, weil nicht realisierbar.

Im Übrigen wird schon wieder das Ende des Gold-Booms verkündet. Die Gold-Rallye sei angesichts des Preisrückgangs vorbei, behaupten die "Experten" nun. Mangels Alternativen seien jetzt Aktien die beste Wahl. Das ist dreist - ausgerechnet Aktien, die aufgrund ihrer Volatilität das genaue Gegenteil eines sicheren Hafens verkörpern. Doch diese Eigenschaft habe Gold unterdessen ebenfalls verloren, sagen sie. "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern", mag man da mit Bezug auf Konrad Adenauer anmerken. Wer dem Gefasel der "Experten" vertraute (Goldanalyst James Turk: "Zwischen den Jahren 2013 und 2015 sehe ich den Goldpreis bei 8000 Dollar pro Unze") [8] und am 06.09.2011 für den Rekordpreis von 1.919,60 US-Dollar je Feinunze Gold gekauft hat, gehört mittlerweile eindeutig zu den Gelackmeierten. Gold hat nämlich seitdem nahezu ein Viertel (23,4 %) seines Wertes eingebüßt. Hätten die Anleger ihr Geld auf dem Tagesgeldkonto deponiert, wäre trotz Minizinsphase wenigstens ein kleines (nominales) Plus geblieben. Die Realverluste hätten sich jedenfalls in engen Grenzen gehalten. Wer Gold hochpreisig eingekauft hat, um der vorhergesagten, aber bislang ausgebliebenen Inflation zu begegnen, wird sich wohl angesichts des rapiden Wertverlustes grün und blau ärgern.

Die "Experten" sind dennoch kaum lernfähig. Der Theorie nach hätte die stark ansteigende Geldmenge längst zu höheren Inflationsraten führen müssen, schließlich fluten die Notenbanken die Wirtschaft massiv mit Liquidität. Die Praxis sieht anders aus: Weder in den USA (März: 1,5 %) noch in der Eurozone (April: 1,2 %) sind gegenwärtig bedrohliche Preissteigerungsraten festzustellen. Im seit zwei Jahrzehnten von der Deflation gebeutelten Japan wäre man froh, wenn man wenigstens an die amerikanische oder europäische Inflationsrate herankäme, die japanische Zentralbank probiert das gerade in einem gewaltigen Kraftakt aus. Die grassierende Arbeitslosigkeit in Europa wird auf absehbare Zeit jeden Inflationsschub verhindern, weil die Flutung der Wirtschaft mit Liquidität mangels Kaufkraft keine entsprechende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen entstehen lässt.

In einem haben die EZB-Kritiker freilich recht: Der Spielraum, die Wirtschaft über die Geldpolitik zu steuern, wird immer kleiner. Spätestens bei einem Leitzins von 0 Prozent ist das als Stimulus gedachte Instrument der Leitzinssenkung ausgereizt. Unter Null kann der Leitzins naturgemäß nicht fallen. Es wäre daher dringend notwendig, die Wirtschaft über ein Investitionsprogramm anzukurbeln. Das, was die EZB derzeit tut, ist lediglich eine Atempause. Und es wäre fatal, wenn sie ungenutzt bliebe. Die Politik muss endlich reagieren. Leider sind die Politiker, zumindest hier in Deutschland, genauso wenig lernfähig wie die meisten "Experten". Die "schwäbische Hausfrau" weicht freiwillig keinen Millimeter vom einmal eingeschlagenen Sparkurs ab.

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[1] Spiegel-Online vom 02.05.2013
[2] Mannheimer Morgen vom 04.05.2013
[3] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 149 vom 29.04.2013
[4] Goldseiten.de vom 01.05.2013
[5] Wikipedia, Feinunze
[6] Deutsche Bundesbank, Pressenotiz vom 03.05.2013
[7] Allianz, Global Wealth Report 2012, Seite 9, PDF-Datei mit 3,5 MB
[8] Wirtschaftswoche vom 24.08.2010