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30. Dezember 1985, von Michael Schöfer
Strategic Defense Initiative (SDI)


Am 23. März 1983 hatte US-Präsident Ronald Reagan seinen amerikanischen Landsleuten via Bildschirm Bedeutendes mitzuteilen:

"Wäre es nicht besser", so Ronald Reagan, "Menschen zu retten, statt sie zu rächen?"

Schon allein diese Äußerung war höchst ungewöhnlich, denn damit hatte Ronald Reagan die atomare Abschreckung in Zweifel gezogen. Fanden dadurch nicht die Standpunkte der Friedensbewegung, die atomare Abschreckung sei moralisch nicht zu rechtfertigen und langfristig instabil, ihre späte und von nicht erwarteter Seite geäußerte Bestätigung?

"Wie wäre es", so Ronald Reagan weiter, "wenn freie Menschen sicher leben könnten in dem Wissen, daß ihre Sicherheit nicht auf der amerikanischen Drohung einer sofortigen Vergeltung beruht, um vor einem sowjetischen Angriff abzuschrecken; daß wir strategische Raketen abfangen und vernichten können, bevor sie unseren Boden oder den unserer Verbündeten erreichen?"

Ronald Reagan rief die "Gemeinschaft der Wissenschaftler, die uns die Kernwaffen gegeben haben, auf, ihre großen Talente der Sache der Menschheit und des Weltfriedens zu widmen; uns die Mittel an die Hand zu geben, um diese Kernwaffen unwirksam und überflüssig zu machen." [1]

Soweit Ronald Reagan. Diese "Krieg-der-Sterne"-Rede, wie man sie später nannte, war der Auftakt zu einer weltweit intensiv geführten Diskussion über die Notwendig- und Machbarkeit einer strategischen Raketenabwehr. Bis zum heutigen Tag ist diese Diskussion im Gange, und sie wird sicherlich noch einige Jahre oder gar Jahrzehnte andauern.

Ob SDI überhaupt machbar ist, darüber streiten sich die Gelehrten. Einige, so z.B. der Kernphysiker Edward Teller, halten SDI für machbar und notwendig. Andere, z.B. der Physiknobelpreisträger Hans Bethe, üben heftige Kritik an Ronald Reagans "Krieg-der-Sterne"-Visionen. Da heute weder die einen noch die anderen eine endgültige Antwort geben können, soll das hier auch nicht näher erörtert werden. Deshalb möchte ich hier nur kurz die Vorstellungen der SDI-Befürworter und die Argumente der SDI-Gegner bezüglich der Machbarkeit eines strategischen Raketenabwehrsystems wiedergeben.

1. SDI - ein Trugbild?

Der Flug einer angreifenden ballistischen Rakete ist in vier Phasen unterteilt:

1. Die boost-Phase = die Antriebsphase

2. Die post-boost-Phase = die Nach-Antriebsphase, wenn sich die einzelnen Sprengköpfe von der Rakete trennen

3. Die mittlere Flugphase = die Gefechtsköpfe fliegen im Weltraum ihrem Ziel entgegen

4. Die terminal-Phase = die Gefechtsköpfe treten wieder in die Erdatmosphäre ein und nehmen Kurs auf ihr Ziel

Vereinfacht dargestellt gliedert sich ein Raketenabwehrsystem in drei Stufen:

Die feindlichen Raketen sollen in der ersten und zweiten Flugphase (2 bis 10 Minuten) von der ersten Verteidigungsschicht angegriffen werden, in der dritten (15 bis 20 Minuten) von der zweiten Verteidigungsschicht, und in der vierten Flugphase von der dritten und letzten Verteidigungsschicht.

Als Waffen für die einzelnen Verteidigungsschichten wurden bisher vor allem gelenkte Energiewaffen (Laser- und Partikelstrahlen), raketenbestückte Satelliten und kinetische Waffen (Bekämpfung der feindlichen Raketen durch Wuchtgeschosse) in Erwägung gezogen. Verschiedene Stationierungsarten sind vorgesehen. Die Anti-Raketen-Waffen sollen entweder ständig im erdnahen Bereich des Weltalls um die Erde kreisen, von U-Booten im Bedarfsfall mittels U-Boot-Raketen in den Weltraum geschossen werden oder auf der Erde verbleiben, wobei dann der Energiestrahl mit Hilfe von im All stationierten Spiegeln umgelenkt werden müßte. Die Kosten des Programms sind heute noch nicht absehbar. Fachleute schätzen Summen zwischen 100 und 1.000 Milliarden US-Dollar.

SDI-Gegner halten ein solches System im wesentlichen aus folgenden Gründen für nicht machbar:
  • Die Technologie für ein effektives Raketenabwehrsystem sei weder vorhanden noch in Sicht.
  • Marschflugkörper und Bomber könnten mit einem solchen System nicht abgewehrt werden.
  • Gegenmaßnahmen der Sowjetunion (z.B. Sprengköpfe, die sprunghaft ihre Ziele anfliegen oder die die Zielverfolgung über Radar durch den Abwurf von Metallwolken unmöglich machen; Sprengkopfattrappen, die durch ihre Vielzahl zur Erschöpfung der Verteidigung beitragen; Raketen mit verkürzter Antriebsphase und abgeflachter Flugbahn; gehärtete oder spiegelnde Materialien, welche die Wirkung des Lasers abschwächen; sich drehende Raketen; Sprengköpfe die Rauchwolken als Schutz gegen Laser abgeben) wären sehr leicht durchzuführen, weil deren Technologie im Gegensatz zu SDI heute schon zur Verfügung steht. Zudem wären diese Gegenmaßnahmen wesentlich preisgünstiger als die Kosten für ein strategisches Raketenabwehrsystem.
Die meisten Beiträge zu SDI beschäftigen sich mit der Frage, ob und wie SDI technologisch zu realisieren ist. Diese Frage ist m.E. jedoch zweitrangig. Nicht die Frage nach der Machbarkeit eines solchen Systems steht im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage, ob wir ein solches System überhaupt brauchen und ob es wünschenswert ist.

Aus diesem Grund möchte ich folgenden Fragen nachgehen:

1. Welche Auswirkungen hat eine strategische Raketenabwehr auf das Verhältnis der Supermächte?

2. Welche Auswirkungen hat es auf die Nuklearstrategien?

3. Welche Auswirkungen hat SDI auf die NATO?

4. Wird durch eine strategische Raketenabwehr die Sicherheit erhöht oder vermindert?

5. Für wen erhöht bzw. vermindert sich die Sicherheit durch SDI?

Alle diese Fragen müssen zwangsläufig unter zwei Gesichtspunkten beantwortet werden, nämlich

a) SDI funktioniert zu 100 Prozent

b) SDI funktioniert nur teilweise.

2. Totale Sicherheit?

Was wäre wenn? Ja, was wäre, wenn SDI machbar wäre, und zwar mit einer hundertprozentigen Sicherheitsgarantie? Rein theoretisch könnte man annehmen, daß beide Supermächte, sofern sie auch beide ein solches System besitzen würden, nie mehr Krieg gegeneinander führen könnten. Ihre Offensivsysteme wären dann unbrauchbar und könnten abgeschafft werden, oder wie US-Präsident Reagan sich ausdrückte, die Kernwaffen würden überflüssig.

Gegen diese Annahme, also daß SDI hundertprozentige Sicherheit bietet, sprechen drei Gründe:
  • Erstens wäre ein solches strategisches Raketenabwehrsystem höchst verwundbar. Die im Weltraum auf relativ niedrigen Umlaufbahnen kreisenden SDI-Kampfplattformen könnten von der Erde (z.B. durch Laser-Kanonen) aus angegriffen werden. Eine andere Möglichkeit sind Killer-Satelliten, die man schon vor dem Aufbau eines SDI-Systems im Weltall stationieren könnte. Diese würden bis zum Tag X "schlafend" in Lauerstellung liegen und erst dann zuschlagen, wenn man sie bräuchte. Sollten beide Supermächte ein strategisches Raketenabwehrsystem besitzen, wäre die Sicherheit auch nicht gewährleistet. Die beiden Raketenabwehrsysteme würden auf genau fixierten Kreisbahnen um die Erde fliegen. Selbst wenn man Angriffe von Killer-Satelliten und Laser-Kanonen ausschalten könnte, es bliebe immer noch die Möglichkeit, daß sich die SDI-Systeme gegenseitig bekämpfen.
Doch nehmen wir einmal an, man könnte alle nur denkbaren Angriffe auf die SDI-Kampfplattformen abwenden und weiterhin alle möglichen Maßnahmen gegen die Wirksamkeit der SDI-Waffen überwinden, es blieben dennoch zwei weitere Gründe, die gegen das Erreichen einer hundertprozentigen Sicherheit der Supermächte voreinander sprechen, denn:
  • Zweitens könnte man ein solches Raketenabwehrsystem niemals testen. Zwar kann man die Wirkungsweise von ein oder zwei Kampfplattformen testen, aber selbst beim Test eines kompletten Abwehrsystems (was aus Kostengründen wohl sehr unwahrscheinlich ist) wäre eines nie zu simulieren, nämlich den Angriff von Raketen vom Territorium des Gegners. Ich glaube kaum, daß die UdSSR den Amerikanern den Gefallen tut, nur so zum Testzweck einmal aufs rote Knöpfchen zu drücken. Das widerspräche jeder Logik und Erfahrung. Wenn aber ein Zuverlässigkeitstest niemals durchzuführen ist, würden dann die Atommächte ganz auf ihre offensiven Nuklearwaffen verzichten? Würden sie alle Schwerter niederlegen, um sich einem nie getesteten Schild zu überantworten? Ich glaube, das klingt noch unwahrscheinlicher. SDI würde also keineswegs, wie Reagan uns einreden will, alle Kernwaffen überflüssig machen. Jede Supermacht würde zumindest eine gewisse Anzahl in der Hinterhand halten wollen, um beim möglichen Versagen des Abwehrschirms noch zurückschlagen (vergelten) zu können.
  • Drittens muß man immer wieder betonen, SDI könnte umgangen werden. Gegen Marschflugkörper und Bomber, niedrig fliegende Raketen und ähnliches wäre SDI wirkungslos. Aber selbst, wenn man mit einem gesonderten Abwehrschirm diesen Gefahren begegnen könnte, eines ist unmöglich: man kann nie verhindern, daß Atomwaffen mit nuklearen Artilleriegranaten verschossen werden. Für uns Europäer, insbesondere für uns Deutsche, brächte ein Raketenabwehrsystem keinesfalls den erhofften Schutz. Die totale Sicherheit gibt es nicht, und sie wird es nie geben.
3. Geschützte USA - ein Segen für die Menschheit?

Nehmen wir einmal an, die USA könnten (entgegen jeder Erwartung) ein totales Abwehrnetz aufbauen, so jedenfalls, daß die USA hundertprozentig vor einem Angriff sicher seien. Im Gegensatz dazu gelänge es der Sowjetunion nicht, ein vergleichbares System zu installieren. Wir hätten also folgende Situation: Die USA wären unverwundbar, die UdSSR verwundbar.

Eines kann man von vornherein annehmen, das Mißtrauen der Sowjetunion gegenüber den "kapitalistischen Staaten" wäre abgrundtief groß. Die Sowjetunion wäre wohl übersensibel. Jedes kleinste Anzeichen westlicher Militäraktivitäten könnte als Vorbereitung des Angriffs gewertet werden. Da die UdSSR ja sowieso dem Westen Überfallabsichten unterstellt, gleich wie realistisch das sein mag, in einer solchen Situation könnte man die Weltlage als völlig instabil bezeichnen.

Es gibt drei Möglichkeiten:

1. Die Sowjetunion läßt es gar nicht zu, daß die USA ein solches System aufbauen. Die Sowjetunion würde also zu einem Präventivschlag gegen die USA oder zumindest gegen das im Bau befindliche Abwehrsystem ausholen. Diese Möglichkeit erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Die Sowjetunion könnte einen solchen Krieg nicht gewinnen, sie würde nur den beiderseitigen Untergang auslösen. Selbst bei einem Überraschungsschlag seitens der UdSSR hätten die Vereinigten Staaten noch genug Vergeltungsmittel zur Verfügung. Das ist der sowjetischen Führung bewußt, doch man kann nie irgendwelche Verzweiflungstaten ausschließen. Wenn sich ein Kontrahent in einer ausweglosen Situation zu befinden glaubt, dann sind irrationale Handlungen durchaus möglich. Sicherheit im Atomzeitalter lebt davon, daß sich beide Gegner gleich sicher oder unsicher fühlen. Ist das nicht der Fall, stürzt das ganze Denkgebäude der atomaren Abschreckung ein. Eigentlich kann man nichts gegen die Überwindung der atomaren Abschreckung einwenden, aber die oben geschilderte Situation wäre noch unsicherer als der bestehende Zustand.

2. Die USA würden wirklich, was die Sowjetunion ja ständig unterstellt, im Falle eigener totaler Sicherheit zu einem Erstschlag gegen die Sowjetunion greifen, um mit dem "Reich des Bösen" (Ronald Reagan) gründlich aufzuräumen und die westlichen Werte auch östlich der Elbe voll zur Geltung kommen lassen. Vieles spricht gegen diese Annahme, schließlich haben die Vereinigten Staaten ja auch während ihres Nuklearmonopols nicht die Sowjetunion angegriffen. Doch leider spricht auch einiges dafür. In den USA sind gegenwärtig Tendenzen sichtbar, sich durch Kriegführungsstrategien (Air-Land-Battle) auch im Atomzeitalter wieder das Mittel des Krieges als "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" (Clausewitz) verfügbar zu machen. Einen begrenzten Atomkrieg, das kann man belegen, halten zumindest einige Strategen der Reagan-Administration für möglich und gewinnbar. (Victory is possible) Es geht hier nicht um das Geschwätz von Wahnsinnigen, das wäre eine gefährliche Unterschätzung. Man muß sich nämlich klar werden, daß sich diese Vorstellungen schon auf die Strategie der Vereinigten Staaten ausgewirkt haben. Air-Land-Battle ist z.B. eine Kriegführungsstrategie, die bereits in die Dienstvorschriften Eingang gefunden hat. Kurz zu Air-Land-Battle:

"Drei Grundelemente prägen die Air-Land-Battle-Doktrin:
  • Das Prinzip der militärischen Offensive, die alle verfügbaren Waffensysteme einschließen soll,
  • das erweiterte Gefechtsfeld, das tief in das gegnerische Territorium ausgedehnt wird (extended battlefield),
  • der integrierte Einsatz konventioneller, nuklearer, chemischer und elektronischer Waffen auf dem Gefechtsfeld." [2]
Air-Land-Battle ist offizielle US-Heeresdoktrin!

Ob die USA den Erstschlag planen - wer weiß das schon? Doch selbst in den übrigen NATO-Staaten ist man durch die strategischen Überlegungen der Amerikaner irritiert. Das Mißtrauen gegen die westliche Vormacht ist auch im eigenen Lager mächtig gewachsen. Wenn die Amerikaner das wundert - mich wundert's nicht.

3. Die wahrscheinlichste Möglichkeit ist, weder die USA noch die UdSSR greifen an, beide warten ab. Natürlich wären die Vereinigten Staaten angesichts ihrer (angenommenen) Unverwundbarkeit in der besseren Position. Der UdSSR blieb schließlich nichts anders übrig, als die westeuropäischen Staaten wieder als atomare Geiseln zu nehmen. Die UdSSR müßte zu der Strategie zurückkehren, die sie schon einmal anzuwenden gezwungen war, und zwar bevor es ihr gelang amerikanisches Territorium direkt zu bedrohen. Und das bei einer insgesamt instabileren Weltlage.

Damit kommen wir auch zu den Auswirkungen eines hundertprozentig funktionierenden Raketenabwehrsystems auf die NATO. Das westliche Bündnis wäre dann sicherlich erheblichen Spannungen ausgesetzt. Da Westeuropa durch SDI niemals hundertprozentig zu schützen wäre, würden innerhalb der NATO zwei Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen. Zwar waren die Europäer schon immer mehr gefährdet als die Vereinigten Staaten, aber die USA waren nie völlig unverwundbar, außer in den Jahren kurz nach dem II. Weltkrieg. Damals waren die Rahmenbedingungen jedoch völlig anders. Die Völker in Ost und West wollten ihre durch den Krieg verwüsteten Länder wieder aufbauen, für einem neuen Krieg waren sie nicht zu begeistern. Auch gab es in den Vereinigten Staaten noch keinerlei Kriegführungsstrategien, damals galt die Nukleardoktrin der "massiven Vergeltung". Für uns Europäer bestand kein Grund anzunehmen, die USA würden einen begrenzten Nuklearkrieg in Europa ausfechten wollen. Das hat sich mittlerweile geändert. Die Nukleardoktrin der Vereinigten Staaten ist inzwischen so "verfeinert", daß ein auf Europa begrenzter Nuklearkrieg durchaus denkbar ist. Zudem haben die USA, im Gegensatz zu früher, auch die entsprechenden Nuklearwaffen zur Verfügung. Dank der Technik ist man heute fähig, Atomsprengköpfe punktgenau ins Ziel zu bringen. Die Zeiten, in denen man Atomwaffen ausschließlich gegen Flächenziele (Städte, Industrieanlagen) anwenden konnte, sind endgültig vorüber. Militärstrategen gehen davon aus, daß man Nuklearwaffen so einsetzen könnte, daß untragbare Nebenschäden bei der Zivilbevölkerung vermieden werden. Die Atomwaffen verlieren zunehmend ihren kriegsverhindernden Abschreckungswert.

Sollten die Vereinigten Staaten jemals völlig unverwundbar sein, was sollte sie dann noch zurückhalten? Sie könnten sich in der Welt noch rücksichtsloser benehmen als das jetzt schon der Fall ist. Die daraus resultierenden Spannungen könnten auf Europa übergreifen und den Krieg auslösen. Ein auf Europa und die UdSSR begrenzter Konflikt könnte einigen in der amerikanischen Regierung als durchaus zu verkraftender Verlust erscheinen, wenn man damit den Kommunismus sowjetischer Prägung endlich besiegen könnte. Eine unverwundbare USA könnte ihre Nuklearstrategie ungehemmt zu einer totalen Angriffsstrategie ausbauen, sie bräuchte nur den jetzt schon sichtbaren Weg weiterverfolgen. Ich glaube, wenn es zu einer solchen Situation kommt, würde die NATO an den ungeheuer großen politischen Interessensunterschieden zerbrechen.

Auch oder gerade wenn die USA unverwundbar wären, die Sicherheit von uns Europäern würde dadurch nicht größer. Im Gegenteil, die Sicherheit in West- und Osteuropa würde durch ein hundertprozentig funktionierendes strategisches Raketenabwehrsystem drastisch verringert. Warum sollten wir also SDI unterstützen? Warum sollten wir uns eine unverwundbare USA und eine weiterhin verwundbare UdSSR wünschen? Warum lehnen wir Europäer SDI nicht kategorisch ab?

4. Halber Schutz - besser als gar kein Schutz?

Würde ein nur teilweise funktionierendes (was anzunehmen ist) strategisches Raketenabwehrsystem die derzeit bestehende Lage verbessern oder verschlechtern?

Wenn SDI zumindest Punktziele (Raketensilos, Kommandozentralen usw.) schützen könnte, wäre das ein Vorteil? Mit Sicherheit wäre das kein Vorteil, denn die Bevölkerungszentren wären dann nach wie vor ungeschützt. Welchen Sinn hat es, militärische Anlagen zu schützen, die Bevölkerung aber nicht? SDI-Befürworter argumentieren, daß dann die UdSSR keinen Erstschlag gegen die Raketenstreitmacht der USA auszuführen in der Lage wäre. Das ist aber auch ohne SDI der Fall, denn die Raketenstreitmacht der USA ist zum größten Teil auf (noch relativ) unverwundbaren U-Booten stationiert. Die Sowjetunion würde m.E. in eine neue Aufrüstungsrunde getrieben. Wenn die Vereinigten Staaten 90 Prozent der sowjetischen Raketen mit Hilfe eines nur teilweise funktionierenden SDI-Systems abfangen könnten, würde die Sowjetunion eben ihre Raketenstreitmacht entsprechend erhöhen. Die Folge wäre also eine ungeheure Aufrüstung, im Westen durch SDI, im Osten durch die Verstärkung der Offensivkapazitäten. Doch selbst, wenn die Sowjetunion darauf verzichten würde, gemessen an der Überlebensfähigkeit der Bevölkerung reichen schon 10 Prozent des heute vorhandenen Potentials allemal aus, um die Menschheit zu vernichten. Auch ein nur teilweise funktionierendes Raketenabwehrsystem rettet die Menschheit nicht vor dem Untergang. Die Folge wäre nur eine kaum zu bezahlende und angesichts der anderen Menschheitsprobleme (Hunger und Elend, Umweltzerstörung) nicht zu verantwortende Aufrüstung.

Und noch ein Grund spricht gegen ein auch nur teilweise funktionierendes Abwehrsystem. Denn die Menschen müßten die Entscheidung über Krieg und Frieden fortan dem Computer überlassen. Wenn von der ersten Registrierung eines Vorfalls nur Sekunden vergehen dürfen ehe das Abwehrnetz aktiviert wird, ist jede menschliche Beeinflussung unmöglich. Die Zeitspanne, die dann noch zur Verfügung stünde, würde nicht einmal ausreichen, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu wecken. Von einer abgewogenen Entscheidung ganz zu schweigen. Ein Systemfehler, etwa eine Fehlschaltung des Computers, könnte nicht mehr überprüft oder rückgängig gemacht werden. Ein Krieg, der durch einen Computerfehler ausgelöst wird, würde in den Bereich des Möglichen rücken.

5. Abschließende Bewertung

Fassen wir noch einmal zusammen:
  • Ein strategisches Raketenabwehrsystem, gleichgültig ob es hundertprozentig oder nur teilweise funktionsfähig ist, liegt nicht im Interesse einer stabilen Weltlage.
  • SDI liegt in keinem Fall im Interesse von uns Europäern.
  • SDI kostet unvorstellbare Summen und führt in einen wohl unvergleichbaren Rüstungswettlauf.
  • SDI macht Nuklearwaffen nicht unwirksam und überflüssig.
Fazit: Für uns kann es nur eine Entscheidung geben - eine strategische Raketenabwehr (SDI) ist abzulehnen. Wenn man die Atomwaffen abschaffen will, so kann man das auf recht billige Art und Weise tun - die allgemeine nukleare Abrüstung. Es ist wohl vernünftiger, die bestehenden Systeme abzubauen, als Anti-Systeme und Anti-Anti-Systeme usf. zusätzlich bereitzustellen. Frieden kann nur politisch und nicht militärisch erreicht werden. Wer an die totale Sicherheit glaubt, der unterliegt einem folgenschweren Irrtum. Sicherheit, auch wenn sie nur relativ ist, kann es nur für alle geben. Jedoch, man muß den Rüstungswahn endlich beenden.

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[1] zitiert nach: Hans Günter Brauch, Angriff aus dem All, Berlin/Bonn 1984
[2] Alfred Mechtersheimer, Zeitbombe NATO, Köln 1984