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08. Mai 2005, von Michael Schöfer
Von England lernen heißt siegen lernen


Da können sich Gerhard Schröder und Franz Müntefering eine Scheibe abschneiden: Tony Blairs Labour Party gewinnt mit schwachen 35,2 Prozent der Stimmen 356 Abgeordnetenmandate, während die britischen Konservativen mit einem Stimmenanteil von 32,3 Prozent nur 197 Sitze ergattern können. Noch schlimmer trifft es die Liberaldemokraten, 22 Prozent der Wählerstimmen bringen ihnen im Unterhaus (House of Commons) lediglich 62 von insgesamt 646 Mandaten. Der nach Prozentanteilen relativ knappe Sieg beschert Tony Blair eine stattliche Parlamentsmehrheit von 67 Sitzen und damit die von ihm erhoffte dritte Amtszeit.

Das Ergebnis ist natürlich dem britischen Mehrheitswahlsystem geschuldet, bei dem der Grundsatz herrscht: "the winner takes all". Es gibt keine Landeslisten, wie in Deutschland, wo die Parlamentssitze nach dem Grundsatz der Verhältniswahl verteilt werden, sondern ausschließlich Wahlkreisvertreter. Der Sieger eines Wahlkreises in Großbritannien braucht nur die relative Mehrheit (= die meisten Stimmen), um in Westminster einzuziehen. Die anderen Bewerber des Wahlkreises erhalten zusammen oft mehr Stimmen, als der Sieger. Doch diese Wahlstimmen gehen völlig verloren. Kleine Parteien, etwa die britischen Grünen, die in Brighton auf beachtliche 22 Prozent kamen [1], dürfen deshalb kaum auf Abgeordnetenmandate hoffen.

Das Prinzip der Mehrheitswahl ist also einerseits ungerechter als das der Verhältniswahl, weil es den Bevölkerungswillen nur unpräzise widerspiegelt. Andererseits bringt es klare Mehrheiten und zwingt den Wahlsieger äußerst selten zu Koalitionen. Darüber hinaus sind radikale Bewegungen so gut wie chancenlos und dürfen nicht einmal auf die Funktion des Züngleins an der Waage hoffen. Die Partei mit den meisten Sitzen hat in der Regel auch die absolute Mehrheit der Mandate. Punktum. Ein Ergebnis, wie das von Helmut Kohl bei der Bundestagswahl 1976, der trotz 48,6 Prozent Stimmenanteil die absolute Mehrheit der Abgeordnetenmandate verfehlte, ist bei der Mehrheitswahl praktisch ausgeschlossen.

Der Sieger kann demzufolge buchstäblich alle seine Wahlziele umsetzen, ohne sie durch Koalitionsabsprachen verwässern zu müssen. Zudem wird in Großbritannien der Föderalismus klein geschrieben. Eine Länderkammer, ähnlich dem Bundesrat mit seiner Blockademehrheit, existiert dort nämlich gar nicht. Das House of Lords, dessen Mitglieder nicht gewählt, sondern aufgrund ihres Adelstandes einen Anspruch auf einen Sitz im Oberhaus haben, ist im Vergleich zum deutschen Bundesrat machtlos. Der Wähler trifft somit eine klare Entscheidung für eine bestimmte Politik, das Ergebnis der Parlamentswahl wird nicht, wie in Deutschland fast schon die Regel, durch andere Mehrheitsverhältnisse in der Ländervertretung konterkariert. Ist der Wähler mit der Regierung unzufrieden, jagt er sie einfach zum Teufel. Die Opposition regiert jedenfalls nicht durch die Hintertür mit.

Natürlich ist das System der Mehrheitswahl kein Allheilmittel. Auch Premierminister Blair hat seine Landsleute in bezug auf den Irak-Krieg belogen, was das Wahlergebnis durchaus zum Ausdruck bringt. Und die soziale Lage der Bevölkerung ist trotz besserer Rahmendaten (seit Mitte der 1990er Jahre ist die britische Wirtschaft um mehr als 25 Prozent gewachsen, die deutsche nur knapp um zehn) dennoch schlechter als in der Bundesrepublik. "Ein gespaltenes Land, in dem der Lebensstandard der schwach Verdienenden deutlich hinter Deutschen oder Franzosen mit ähnlichem Gehalt zurück liegt", resümiert die Deutsche Welle am 04.05.2005. Gleichwohl würde ein System der Mehrheitswahl, ähnlich dem in Großbritannien, zur Zeit auf Deutschland befreiend wirken. Das ist kein generelles Plädoyer für die Einführung der Mehrheitswahl, aber ein Plädoyer für klare Mehrheiten. Doch so wie die Föderalismuskommission gegenwärtig agiert, dürfen wir davon auch künftig nur träumen.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 07.05.2005