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02. Juni 2005, von Michael Schöfer
Genau die Arroganz, die die Menschen abstößt


Auch die Niederlande haben nun eindeutig nein zur EU-Verfassung gesagt. Nach Frankreich ist der Verfassungsentwurf damit bereits in zwei Mitgliedsstaaten gescheitert, und das ausgerechnet bei zwei wichtigen Gründungsmitgliedern. Vermutlich war die EU-Verfassung selbst diesmal genausowenig im Visier der Wähler wie in Frankreich, sondern eher die unpopuläre Regierung von Jan Peter Balkenende, dem niederländischen Premier. Ähnlich unbeliebt wie Jacques Chirac und Jean-Pierre Raffarin, konnte er seine Landsleute nicht zu einem Ja bewegen. Die Bürger haben den Kurs des politischen Establishments offenbar gründlich satt, bei dem für die breite Masse immer weniger Anteil am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand abfällt. Mit der EU-Verfassung knüppelt man den Sack, meint aber in Wahrheit den Herrn respektive seine Politik.

Doch das Establishment reagiert mit der gewohnten Überheblichkeit auf den Willen des Souveräns. Der EU-Verfassung muß eigentlich in allen EU-Mitgliedsstaaten zugestimmt werden, sonst kann sie nicht in Kraft treten. Anfangs vernahm man, daß sie doch in Kraft gesetzt werden könnte, wenn bloß ein kleiner Mitgliedsstaat dagegen stimmt. Als Frankreich dann mit Nein votierte, ruderte man hinter eine neue Auffanglinie zurück. Nun hieß die Sprachregelung, wenn nur Frankreich nein sagt, könne man dies vielleicht irgendwie verschmerzen. Nachdem jetzt die Niederländer den Franzosen gefolgt sind, lautet die aktuelle Version, "eine Ablehnung von bis zu fünf Mitgliedsstaaten ließe die Möglichkeit offen, bei einem Gipfeltreffen das weitere Vorgehen zu beraten und nach Lösungen zu suchen" [1]. Ganz so, als könne man das Nein der Wähler von bis zu fünf Ländern am grünen Tisch vielleicht doch noch korrigieren. Ganz so, als müsse man bei einem Nein von mehr als fünf Ländern nicht ebenfalls beraten und nach Lösungen suchen.

Genau diese schier unglaubliche Arroganz stößt die Menschen ab. Sie bekommen zu Recht den Eindruck vermittelt, daß "die da oben" ihre Politik am liebsten ohne Beteiligung der Bürger organisieren würden. In Kungelrunden wird ausgehandelt, wie Europa auszusehen habe. Die Beteiligung der Bürger, etwa via Europaparlament, ist dabei selbstverständlich so klein wie möglich zu halten. Schließlich könnte sich der Wille des Souveräns störend bemerkbar machen. Nachträglich wird dieser pro forma um seine Zustimmung gebeten und soll, ohne daß er dies überhaupt beeinflussen kann, das ausgekungelte Gesamtpaket brav abnicken. In etlichen Mitgliedsstaaten, zum Beispiel in Deutschland, wird er erst gar nicht gefragt.

Europa kann jetzt nur den Sprung nach vorne wagen, um auf diese Weise aus der selbstverursachten Misere herauszukommen. Dabei sind m.E. soziale Mindeststandards, eine drastische Ausweitung der Rechte des Europaparlaments und ein deutlicher Zuwachs bei der Bürgerbeteiligung unabdingbar. Wenn die Menschen das Gefühl haben, Europa ist eine soziale Bastion gegen den neoliberalen Mainstream, wird die Zustimmung zu Europa gewiß ansteigen. Europa ist gegenwärtig nur deshalb unpopulär, weil es diese Schutzfunktion vermissen läßt. Die Menschen fühlen sich von immer neuen Erweiterungsrunden überfordert und an die Wand gedrückt. Wenn sie Europa hauptsächlich als Unternehmerparadies und soziale Abwärtsspirale wahrnehmen, wird Europa unweigerlich scheitern. Und wenn die Politik jetzt auf die gewohnte Weise reagiert, werden ihr demnächst sämtliche Einzelteile um die Ohren fliegen.

Bundesaußenminister Joschka Fischer behauptet seit Wochen lapidar, daß es keine bessere Verfassung geben wird. Andersherum wird ein Schuh draus, Herr Minister. Nur eine bessere Verfassung kann helfen. Die Bürger haben durch das Nein der Franzosen und der Niederländer unzweifelhaft Blut geleckt. Ändert sich nichts, werden die Bisse in Zukunft immer zorniger. Dann versalzen die Bürger dem Establishment bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Suppe, ohne einen Gedanken an die konkreten Folgen zu verschwenden. Hauptsache abgestraft. Die Politik muß sich mit den Bürgern wieder versöhnen, ihnen keinen unpopulären Kurs aufzwingen. Beherzigt man das, hat Europa wieder alle Chancen.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 02.06.2005