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30. Januar 2006, von Michael Schöfer
Wo bleibt Ihr denn?


Ich bin Jahrgang 1959, die wilden sechziger Jahre habe ich demzufolge nicht richtig mitbekommen. Das Übel der späten Geburt, nennt man das wohl. Schade eigentlich. Dennoch haben wir mächtig von der Rebellion der heutzutage heftig geschmähten 68er-Generation profitiert. Plötzlich durften wir uns die Haare wachsen lassen, Bluejeans tragen, "Negermusik" hören und in der "Bravo" die Fragen an "Dr. Sommer" lesen, ohne deshalb zu Hause gleich Prügel zu riskieren. Höchstens abfällige Bemerkungen mußten wir über uns ergehen lassen, doch das war auszuhalten.

Später konnte ich dann sogar mit meiner Freundin ohne Trauschein zusammenleben. "Wilde Ehe" nannte man das. Wow! Etwas, das vorher völlig unmöglich gewesen wäre. Man hätte schlicht und ergreifend keine Wohnung gefunden. Schließlich gab es noch den Kuppelparagraph, worunter man früher u.a. die Duldung respektive Förderung von anstößigen Sexualkontakten verstand, etwa wenn der Freund der Tochter bei ihr übernachtete (Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit zur Unzucht). Vorehelicher Geschlechtsverkehr galt damals generell als unzüchtig. Tja, die Gesellschaft war ziemlich prüde und verklemmt.

Meine politisch bewußte Zeit begann in den achtziger Jahren. Die Demos gegen den Vietnam-Krieg sahen wir nur in den Nachrichten, aber ab 1980 demonstrierten wir selbst, vor allem gegen die NATO-Nachrüstung. Das war die Zeit, in der auch die Umweltbewegung groß wurde, was dann zur Gründung der Grünen führte. Wir wollten eine friedlichere, gerechtere und ökologischere Welt. Aufgelehnt haben wir uns gegen ein Establishment, das von alledem nicht viel wissen wollte. Zugegeben, von wirklicher Rebellion konnte man in diesem Fall kaum sprechen, gleichwohl haben wir viel zum Bewußtseinswandel beigetragen, die absoluten Betonköpfe sind mittlerweile zum Glück in der Minderheit.

Nun ist sozusagen meine Generation am Ruder, die 68er gehen nämlich langsam in Rente. Natürlich machen wir, wie sollte es anders sein, ebenfalls Fehler. Bekanntlich hat keine Generation die Weisheit mit dem Löffel gefressen, selbstverständlich auch unsere nicht. Meist hat sich dann die nachwachsende Generation gegen die etablierte aufgelehnt und neuartige Ideen propagiert. Meist. Es war einmal, könnte man bedauernd hinzufügen, denn seit einiger Zeit ist Ruhe im Land. Wo ist sie denn, die rebellische Jugend, die gegen uns "Alte" aufbegehrt? Es ist weit und breit nichts von ihr zu sehen, was mir ehrlich gesagt erhebliche Sorgen bereitet.

Klar, jeder will etwas vom großen Kuchen abbekommen. Aber uns ging es nicht bloß um die Verteilung des Kuchens, sondern gleich ums ganze Backrezept. Mit anderen Worten: Wir wollten die Verhältnisse grundlegend ändern. Gewiß, wir haben nicht alles erreicht. Genaugenommen ist sogar etliches liegen geblieben. Allerdings, wo sind heute die, die bereitwillig den Staffelstab aufnehmen und weitertragen? Bislang Fehlanzeige. Man hat eher das Gefühl, als wolle die Jugend nur dazugehören. Und dazu taugt eben keine rebellische Haltung. Nicht aufmucken, heißt vielmehr die Devise. Über Systemveränderung wird jedenfalls kaum noch gesprochen, schon gar nicht dafür demonstriert.

Offenbar geht es der Jugend hierzulande überwiegend um recht eigennützige Anliegen, z.B. die Verhinderung von Studiengebühren. Das ist wichtig, ohne Frage. Trotzdem ich warte förmlich darauf, daß sie das Establishment nicht bloß punktuell herausfordert. Was Politik angeht, spürt man indes großes Desinteresse. Doch wenn sich die Jugend nicht engagiert, wie will sie dann die Welt organisieren, die sie spätestens in 20 oder 25 Jahren von uns übernehmen wird?

Genug zu tun gäbe es ja: 2005 war das wärmste Jahr seit dem Beginn der Temperaturmessung, der Treibhauseffekt verstärkt sich also rasant. [1] Das Waldsterben wird schlimmer. "Rund die Hälfte der Eichen hatte 2005 schwere Schäden. (...) Verschlechtert hat sich auch der Zustand der Kiefern. Knapp ein Fünftel wies große Schäden auf. (...) Der Anteil der Buchen mit schweren Schäden hat sich seit 1984 vervierfacht." [2] Die soziale Kluft verbreitert sich. In Deutschland sind "erstmals seit der Vereinigung (...) die Bruttolöhne und -gehälter gesunken. Sie lagen in der Summe um 0,3 Prozent unter dem Vorjahr." [3]

Meine Generation geht in zwanzig Jahren in Rente. Dann gehört die Welt euch Jungen, deshalb solltet ihr euch wenigstens ein bißchen für sie interessieren. Es ist euere Zukunft. Ihr werdet kaum erwarten können, daß wir das stellvertretend für Euch organisieren. Den Arsch, Verzeihung, müßt Ihr schon selbst hochkriegen. Also tut endlich was.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 26.01.2006
[2] Frankfurter Rundschau vom 25.01.2006
[3] Frankfurter Rundschau vom 13.01.2006