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04. Mai 2008, von Michael Schöfer
Der Wahrheit verpflichtet


Wenn in China Opfer über Polizeiwillkür klagen, Körperverletzungen und Todesfälle auf Polizeiwachen sind dort bekanntlich keine Ausnahme, entrüsten wir uns zu Recht über derartige Zustände. Wenn so etwas hierzulande passiert, müssen diese Fälle rückhaltlos aufgeklärt werden. Es gibt nur eine Wahrheit. Und die herauszufinden ist die Pflicht der Behörden. Es muss ohne Ansehen der Person ermittelt werden, das gilt für Opfer und mutmaßliche Täter gleichermaßen. Sogar wenn die Tatverdächtigen in den eigenen Reihen zu suchen sind.

Manchmal kommt die Wahrheit nie ans Licht. Leider. Oury Jalloh, ein Asylbewerber aus Westafrika, ist vor drei Jahren in einer Zelle des Polizeireviers von Dessau bei lebendigem Leib verbrannt. Jalloh habe, so die offizielle Version, mit einem Feuerzeug die - laut Herstellerangaben allerdings schwer entflammbare - Matratze, auf der er lag, selbst angezündet. Und das, obgleich Jalloh an Händen und Füßen mit Handschellen gefesselt war und bei der Einlieferung ins Polizeigewahrsam kein Feuerzeug besessen haben soll. [1] Was konkret passiert ist, bleibt vermutlich für immer im Dunkeln. Das Ganze ist ziemlich mysteriös, was natürlich zu wilden Spekulationen Anlass gibt. Kam man dem Verbrennenden bloß nicht schnell genug zu Hilfe? War es Fahrlässigkeit oder Absicht? Oder wurde Jalloh gar angezündet? Ein Kriminaloberkommissar soll angeblich gesagt haben, "in Sachsen- Anhalt würden Schwarzafrikaner von der Polizei in der Zelle verbrannt". Er habe sich mit Kollegen lediglich über Gerüchte zu Jallohs Tod unterhalten. "Tatsachen hätte er gar nicht behaupten können, da er die Ermittlungsakten im Fall Jalloh nicht kenne", sagt er vor Gericht aus. [2] Der Prozess ist momentan auf unbestimmte Zeit unterbrochen, weil der Hauptangeklagte und ein Schöffe einen Schlaganfall erlitten haben und gegenwärtig verhandlungsunfähig sind.

Wilde Spekulationen gibt es zur Zeit auch im im Todesfall Özdamar. Der 26-jährige Türke Adem Özdamar hatte unter Kokaineinfluss in der Nacht zum 17. Februar 2008 die Polizei gerufen, weil er sich verfolgt fühlte. Danach soll er auf der Polizeiwache in Hagen (NRW) randaliert haben. Özdamar fiel ins Koma und starb drei Wochen später im Krankenhaus. Die Dortmunder Gerichtsmedizinerin Eva Schmidt stellte zunächst folgende Verletzungen fest: "Hämatome über der linken Augenbraue sowie am rechten Oberlid." Ursache war ihrer Meinung nach "stumpfe Gewaltanwendung von außen." [3] "Eine herbeigerufene Notärztin gab zu Protokoll: "Der Patient wurde möglicherweise mit dem Kopf gegen eine Wand geschlagen." Özdamars "Hand war so stark angeschwollen, dass die Finger kaum noch einzeln zu erkennen sind. Bei der Notoperation am Gehirn mussten die Ärzte seine Schädeldecke entfernen - sein Gehirn war durch das Ödem aufs doppelte vergrößert." [4] Später kamen weitere Erkenntnisse hinzu: "Fotos aus der Notaufnahme des Krankenhauses (...) zeigen auch ein handtellergroßes Hämatom am Hals und an der Stirn sowie Blutergüsse und Schürfwunden am ganzen Körper." [5] Bei radiologischen Untersuchungen wurde außerdem eine Nasenbeinfraktur festgestellt. [6]

Möglicherweise ist Özdamar erstickt, weil es bei ihm, bäuchlings mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt, zu einem lagebedingten Erstickungstod kam. "Wenn ein Mensch stark erregt sei und randaliere, benötige er ungefähr die 20-fache Menge Sauerstoff. In Bauchlage hat der Brustkorb nicht die Kraft, sich zu öffnen, der Patient erstickt. Wenige Sekunden später bleibe das Herz stehen, in der Spätfolge könne ein Gehirnödem auftreten, wie es bei Özdamar gefunden wurde." Die Reanimation ist erfolgreich. Aber: Erst nach 31-minütigem Stillstand habe sein Herz wieder geschlagen. In den USA ist diese Fesselungsmethode seit 20 Jahren verboten, nachdem Dutzende Verhaftete in dieser Lage zu Tode kamen. "Jörg Kunzendorf, Sprecher des Bundespolizeipräsidiums, sagte: 'Alle Beamten werden ausdrücklich über die möglichen Folgen entsprechender Fesselungstechniken belehrt.' Auch in einem Brief des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily (SPD) an alle Innenministerien aus dem Jahr 1999 wird vor der Gefahr der Fesselung gewarnt." [7] Polizeibeamte in Nordrhein-Westfalen belehre man nach Angaben des dortigen Innenministeriums mit einem Merkblatt über die Gefahr, zudem werde das Thema bei Fortbildungsmaßnahmen angesprochen.

Mit guten Grund, denn bereits in der Vergangenheit kam es auch in NRW zu entsprechenden Todesfällen: "Schon 2002 machte der Fall von Stefan N. aus Köln Schlagzeilen. Der 31-Jährige fiel bäuchlings fixiert ins Koma und starb zwei Wochen später. Auch Antonio G. wurde im November 2004 in Bonn festgenommen. Betrunken randalierend wehrte er sich gegen Festnahme und Blutprobe. Er wurde bäuchlings gefesselt und erstickte, nach seiner Wiederbelebung fiel er ins Koma, aus dem er nie wieder erwachte. In beiden Fällen wurden die Polizisten angeklagt und freigesprochen. (...) Entweder die Polizisten waren nicht aufgeklärt - dann hat das Innenministerium versagt. Oder die Beamten haben wider besseres Wissen gehandelt", sagt ein Anwalt der Familie Özdamar deshalb im Hinblick auf den aktuellen Fall. [8]

Die Hagener Polizeiwache ist zu allem Überfluss nicht zum ersten Mal in den Schlagzeilen: "Neun Beamte der Hagener Polizei stehen unter dem Verdacht, eine 27 Jahre alte Kollegin überrumpelt, mit Handschellen gefesselt und an einem Kleiderhaken aufgehängt zu haben." [9] Dort sei sie aufgehängt gewesen, "so dass ihre Füße nicht mehr den Boden berührten. Auf ihre Hilferufe habe niemand reagiert. Stattdessen hätten die Kollegen den Raum verlassen und gespottet: 'Je weniger du dich bewegst, um so weniger tut es weh.' Die Stelle, an der sie aufgehängt worden war, wurde anschließend als 'Frauenparkplatz' bezeichnet." [10] Mobbing pur sei das gewesen. Die Hagener Staatsanwaltschaft ermittelte unter anderem wegen Körperverletzung im Amt, das Gericht sprach die Angeklagten jedoch frei.

Was dem Fall Özdamar ein Geschäckle gibt, sind die widerwilligen Aufklärungsbemühungen der Ermittlungsbehörden. Zunächst behauptete die Polizei, "es gebe 'keinerlei Anzeichen' dafür, dass Özdamar misshandelt wurde. Sein Herzstillstand und das Gehirnödem seien Folgen seines Drogenkonsums." [11] Und ein Oberstaatsanwalt behauptete anfangs, "es gebe 'keinerlei Anzeichen für eine äußerliche Gewaltanwendung', also auch keinen Grund für weitere Ermittlungen." [12] Was objektiv betrachtet nicht stimmte (siehe oben). Einer der Anwälte der Familie Özdamar erhebt daher schwere Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft: "Die Ermittlungen gegen die Polizisten wurden gar nicht erst aufgenommen. So seien zum Beispiel Ärzte des Hagener Allgemeinen Krankenhauses nicht verhört worden, in das Adem Özdamar unmittelbar von der Wache aus gebracht wurde. Auch gebe es keine Fotos der beteiligten elf Polizisten, damit Zeugen einzelne Handlungen Personen zuordnen können." Er beklagt: "Die Standards jeder Ermittlung wurden nicht eingehalten." [13] "Nach Informationen der Frankfurter Rundschau hat die Staatsanwaltschaft wichtige Anträge auf Beweisaufnahme der Anwälte abgeschmettert." Das Blatt kommt aus diesem Grund zu der bitteren Einschätzung: "Der Tod von Adem Özdamar auf einer Hagener Polizeiwache soll offenbar nicht aufgeklärt werden." [14]

Die beteiligten Polizisten schweigen bislang, was ihr gutes Recht ist. Aber es darf keinesfalls der Verdacht aufkommen, hier hacke eine Krähe (Staatsanwaltschaft) der anderen (Polizei) kein Auge aus. Türken sind keine Menschen zweiter Klasse - sogar wenn sie drogensüchtig oder gewalttätig sein sollten. Die Verletzungen Özdamars sind vielleicht auf dessen Widerstandshandlungen zurückzuführen, sein Tod eventuell Folge einer unzulässigen Fesselungsmethode. Kann sein, kann aber auch nicht sein. Jedenfalls gibt es keinen Grund, nicht nach der Wahrheit zu suchen, selbst wenn sie weh tut. Schließlich unterscheidet uns genau das von den Zuständen in China. Oder nicht?

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[1] Wikipedia, Oury Jalloh
[2] Tagesspiegel vom 23.04.2008
[3] Frankfurter Rundschau vom 11.03.2008
[4] Frankfurter Rundschau vom 12.03.2008
[5] Frankfurter Rundschau vom 11.03.2008
[6] Frankfurter Rundschau vom 14.03.2008
[7] Frankfurter Rundschau vom 13.03.2008
[8] Frankfurter Rundschau vom 15.03.2008
[9] WDR-Sendung Panorama vom 04.06.2002
[10] Frankfurter Rundschau vom 06.06.2002
[11] Frankfurter Rundschau vom 12.03.2008
[12] Frankfurter Rundschau vom 11.03.2008
[13] Frankfurter Rundschau vom 17.03.2008
[14] Frankfurter Rundschau vom 02.05.2008


Nachtrag (07.05.2008):
Ein Leser meiner Website hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Meldung der Frankfurter Rundschau vom 15.03.2008 zumindest in Bezug auf Antonio G. falsch ist. Wie aus dem unten aufgeführten Urteil des Landgerichts Bonn (Az: 23 M 6/05) hervorgeht, wurden drei beteiligte Polizeibeamte und der Arzt, der bei Antonio G. eine Blutentnahme vornahm, wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und neun Monaten verurteilt. [15] Die Frankfurter Rundschau hatte behauptet, die Polizisten seien freigesprochen worden. Im Urteil findet man auf Seite 40 auch das angesprochene Merkblatt des Innenministeriums NRW. Für den Hinweis vielen Dank.

[15] Urteil LG Bonn, PDF-Datei mit 2,3 MB

Nachtrag (20.05.2008):
Was ist los mit der Polizei in Hagen? Was ist los mit der dortigen Staatsanwaltschaft? "Nach Informationen der FR starb am 14. Mai 2007 ein 35 Jahre alter Franzose, als er von Polizeibeamten an Händen, Füßen und am Kinn fixiert wurde." [16] Im Februar 2008 fiel Adem Özdamar, nachdem bei ihm eine verbotene Fesselungsmethode angewandt wurde, ins Koma und starb. Laut FR wurde die Öffentlichkeit über den Tod des Franzosen bislang nicht unterrichtet. Eine merkwürdige Häufung von Todesfällen. Merkwürdig auch das Schweigen.

[16] Frankfurter Rundschau vom 20.05.2008