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27. Juni 2010, von Michael Schöfer
Weltmeister der Herzen


Sorry, England, dass Schiedsrichter Jorge Larrionda den Lattenschuss von Frank Lampard nicht als Tor anerkannt hat. Der Ball war, wie das Fernsehbild beweist, klar hinter der Linie. Eigentlich hätte es noch vor der Pause 2:2 stehen müssen. Natürlich könnte man jetzt sagen: Ihr gebt zu, dass der Schuss von Geoff Hurst, der 1966 zum berühmten Wembley-Tor führte, KEIN Tor war. Und wir geben zu, dass der Schuss von Lampard, der zum künftig sicherlich nicht weniger berühmten Bloemfontein-Tor führte ("umgekehrtes Wembley-Tor"), unzweifelhaft als Treffer hätte anerkannt werden müssen. Das ändert zwar weder etwas am - aus deutscher Sicht - 2:4 von 1966 noch am 4:1 von 2010, wäre aber wenigstens im Nachhinein fair. Typisch englisch eben, eine Sache des "Fair Play". Leider habt ihr vor 44 Jahren, was das Fair Play angeht, kläglich versagt.

Die Welt ist halt total verlogen. So sind etwa die Lügengeschichten von George W. Bush ("Saddam Hussein besitzt Massenvernichtungswaffen") inzwischen legendär. Sein Nachfolger, Barack Obama, bekundet öffentlich, er würde den Ölgesellschaften gerne in den - Verzeihung - Arsch treten, unter der Hand erlaubt seine Regierung den Konzernen allerdings dennoch, vorgeschriebene Umweltprüfungen zu umgehen. [1] Und wenn Guido Westerwelle treuherzig erzählt, das Sparpaket der Bundesregierung sei "sozial ausgewogen", ist das ebenfalls leicht als Lüge zu erkennen. Würden Lügen wirklich Balken verbiegen, brächen auf der ganzen Welt zahlreiche Gebäude unter lautem Getöse in sich zusammen. Ich habe mich schon oft gefragt, warum wir eine so verlogene Spezies sind. Paradox: Im Großen dulden wir etwas, das wir uns im Kleinen, d.h. auf der privaten Ebene, strikt verbitten: angelogen zu werden. (Okay, sehen wir einmal von den vielen Seitensprüngen ab - angeblich geht mehr als die Hälfte der Bevölkerung mindestens einmal im Leben fremd.)

Bedauerlicherweise hat heute auch die deutsche Fußballnationalmannschaft hinsichtlich des Fair Play versagt, dabei wäre das Bloemfontein-Tor die Chance gewesen, zumindest "Weltmeister der Herzen" zu werden. Man stelle sich vor, die Deutschen hätten den Anstoß zur zweiten Halbzeit dazu genutzt, um gleich zu Beginn bewusst ein Eigentor zu schießen. Sozusagen als Ausgleich für die vorangegangene Fehlleistung des Schiedsrichtergespanns. Die Sportwelt wäre zunächst Kopf gestanden, der lässige Schuss von Miroslav Klose ins eigene Tor jedoch unweigerlich in die Sportgeschichte eingegangen. Hätte ja die Nationalmannschaft als ganz große sportliche Geste in der Halbzeitpause mit dem Bundestrainer vereinbaren können. Motto: "Nein, so wollen wir nicht gewinnen!" Bestimmt hätten sich die verdatterten Zuschauer zuerst an den Kopf gefasst, aber nach ein paar Schrecksekunden das deutsche Team mit Standing Ovations gefeiert. Welch ein sentimentaler Moment, alle haben Tränen in den Augen. Das Renommee Deutschlands wäre ungemein gestiegen. Angesichts dieses mustergültigen Fair Plays hätten gewiss auch die englischen Spieler applaudiert. Gleich auf dem Rasen, und ohne Häme.

Ich weiß, das ist naiv. Womöglich hätte Deutschland dann sogar noch verloren. Oje, nicht auszudenken. Die Fans daheim an den Bildschirmen hätten unsere Nationalmannschaft in diesem Fall vielleicht als "Deppenelf" verhöhnt. Und genaugenommen geht es beim Fußball in erster Linie ums Geschäft, nicht um sportlichen Ruhm oder Fair Play. Es ist Mumpitz, etwas anderes zu behaupten. Wahrscheinlich hat Ulrich Wickert recht: Der Ehrliche ist wohl in der Tat der Dumme. Jedenfalls in unserer heutigen Welt. Wie dem auch sei, ein solch kurioses Eigentor wäre trotzdem die sportliche Großtat dieser Fußballweltmeisterschaft gewesen. Deutschland hätte damit den Titel "Weltmeister der Herzen" schon in der Tasche gehabt. Vom Fair-Play-Pokal ganz zu schweigen. Denn ob's mit dem anderen Pokal klappt, steht in den Sternen. Kann ja sein, dass wir im Viertelfinale gegen Argentinien spielen. Und die sind bekanntlich absolut unfair: Diego Maradona, der jetzige Trainer der argentinischen Elf, nahm als Spieler bei der Weltmeisterschaft 1986 - wie er rechtfertigend sagte - die "Hand Gottes" zu Hilfe, um ein irreguläres Tor zu erzielen. Übrigens gegen die Engländer. Die haben wirklich Pech.

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[1] siehe Süddeutsche vom 21.06.2010