Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



15. September 2010, von Michael Schöfer
Leidkultur


Die Union sucht, aufgeschreckt durch schlechte Umfragewerte, händeringend nach Profil. Manche vermissen in der konservativen Partei den Konservatismus, sehnen sich zurück nach einer Leitkultur à la Friedrich Merz und den Provokationen eines Roland Koch. Frank Lübberding hat m.E. zu Recht darauf hingewiesen, dass dies im Grunde eine Gespensterdebatte ist: "Das Problem der Union ist (...) nicht die von Frau Merkel gestohlene konservative Identität, sondern ihre wegbrechende soziale Basis. Wen wollen die Repräsentanten des konservativen Flügels eigentlich noch vertreten? (…) Da hilft keine Debatte über konservative Werte, wenn sie vor Ort keinen Empfänger mehr findet. Etwa der Begriff Heimat. Wie soll jemand Heimat definieren, wenn in Wirklichkeit Mobilität und Flexibilität das Credo konservativer Politik sind? (...) Die Konservativen in der Union agieren im luftleeren Raum. Die Debatte findet ohne Resonanzkörper statt." [1] Alfred Dregger und Franz-Josef Strauß waren einstmals bewährte konservative Haudegen, die sich allerdings heutzutage mit ihren Ansichten eher lächerlich machen würden anstatt für die Union noch Wahlen zu gewinnen. Politische Fossile, keine gangbare Alternative. Die Gesellschaft hat sich unwiderruflich gewandelt, es gibt keinen Weg zurück in die vermeintlich gute alte Zeit. Die von einigen propagierte Leitkultur mutiert so zur Leidkultur.

Kurioserweise ist die Union an diesem Zustand auch noch selbst schuld. Die Veränderung der gesellschaftlichen Realität, unter der die Konservativen momentan so zu leiden haben, ist nämlich in nicht unwesentlichem Maße durch sie selbst herbeigeführt worden. Das konservative Familienideal mit dem Mann als Alleinverdiener hat sich doch insbesondere unter dem ökonomischen Druck, den die Union stets bereitwillig gefördert hat, nach und nach aufgelöst. Wer etwa durch seine Politik den Niedriglohnsektor ausweitet, ohne ihn mit einem gesetzlichen Mindestlohn nach unten zu begrenzen, fördert unweigerlich die von ihm lauthals beklagte Auflösung der traditionellen familiären Strukturen. Konsequenz: Heute könnten nur noch wenige das in den 50er Jahren vorherrschende Modell des Alleinverdieners leben, selbst wenn sie es wollten. Durch den Wertewandel wollen es die Menschen inzwischen auch nicht mehr. Zum Glück. Was soll also das Geschwätz über Werte, wenn man sie gleichzeitig durch die eigene Politik zerstört?

Die Union ist zweifellos in der Zwickmühle, aber vielleicht erleidet sie jetzt bloß das, was die SPD schon hinter sich hat: den schleichenden Niedergang als Volkspartei. Das alte Drei-Parteien-System (Union, SPD, FDP) ist wohl endgültig perdu, die Atomisierung der Gesellschaft macht sich jetzt logischerweise auch im politischen System bemerkbar. Sogar ein Sechs-Parteien-System ist durch die immer wieder ins Spiel gebrachte Gründung einer Rechtspartei nicht völlig undenkbar. In anderen Ländern, Österreich, Dänemark oder den Niederlanden, ist das bereits Realität. Die Forderung nach Rückkehr zu den alten konservativen Werten ist daher in der Tat eine reine Gespensterdebatte.

----------

[1] Weissgarnix vom 14.09.2010, Das Jammern der Konservativen