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21. Juli 2012, von Michael Schöfer
Bedauerliche Einzelfälle und extrem selten


"Blutbad bei Batman-Premiere", "Amoklauf im Kino" und "Massaker im Kino" lauten derzeit die Überschriften in den Gazetten. Ein 24-Jähriger hat in in einem Vorort von Denver/Colorado/USA während einer Filmvorstellung mindestens zwölf Menschen erschossen und 59 Menschen verletzt. "US-Präsident Barack Obama zeigte sich 'schockiert und tief betrübt' über die Schießerei. Seine Frau Michelle und er seien schockiert über die 'entsetzliche und tragische' Tat, erklärte Obama in Washington. Die Regierung werde alles tun, um die Menschen in Aurora zu unterstützen, fügte Obama hinzu. In solchen 'Momenten der Dunkelheit und Herausforderung müssen wir jetzt wie eine amerikanische Familie zusammenkommen', rief der Präsident seine Landsleute auf." [1] Auch sein Konkurrent um die Präsidentschaft, Mitt Romney, meldete sich zu Wort: "Wir beten für die Familien und Lieben der Opfer in diesem Moment des Schocks und der tiefen Trauer", sagte Romney. Und: "Wir erwarten, dass der Verantwortliche rasch zur Rechenschaft gezogen wird." Die Amerikaner erlebten nicht nur ein "Gefühl der Trauer", sondern auch ein "Gefühl der Hilflosigkeit". "Er spreche heute nicht als Kandidat, sondern als 'Vater, Großvater und Ehemann' (...). Jeder von uns wird seine Kinder heute Abend etwas fester halten, etwas länger mit Kollegen reden oder einen Freund oder Verwandten anrufen." [2] Die USA stünden unter Schock, liest man.

Entschuldigung, aber diese zur Schau getragene Rührseligkeit und die pathetischen Worte ("wie eine amerikanische Familie zusammenkommen", "wir beten für die Familien und Lieben der Opfer") sind nicht anderes als leeres Geschwätz. Und obendrein eine riesengroße Heuchelei. Statt Beten würde vielleicht ein restriktives Waffenrecht helfen, schließlich ist das nicht der erste Amoklauf in den USA, doch kein Politiker traut sich, der Waffenlobby die Stirn zu bieten. Die Amerikaner haben nämlich zu Waffen ein ähnlich neurotisches Verhältnis, wie wir Deutschen zum Auto (Stichwort: Tempolimit auf Autobahnen). Noch im April hat Mitt Romney, ja, genau der, der jetzt so intensiv für die armen Opfer beten will, der National Rifle Association (NRA) seine Aufwartung gemacht. "'Ihr könnt stolz sein', rief er dem jubelndem Publikum zu. Die NRA habe nur ein Anliegen, 'die Verteidigung der Freiheit'. Romney warf Obama vor, das Recht auf Waffentragen für Amerikaner einschränken zu wollen - und kündigte für den Fall seiner Wahl eine Abkehr von der Politik des jetzigen Amtsinhabers an. 'Ich werde den zweiten Verfassungszusatz über das Recht des amerikanischen Volkes auf Waffentragen schützen', sagte Romney." [3] In den USA sind geschätzte 270 Mio. Schusswaffen im Umlauf - bei 311 Mio. Einwohnern. Kein Wunder, wenn Schusswaffen bei Verbrechen eine dominierende Rolle spielen: Von den 14.860 Morden, die es 2005 in den Vereinigten Staaten gab, wurden 10.100 (= 68 Prozent) unter Verwendung von Schusswaffen begangen. Zum Vergleich: In Deutschland kam 2006 bei insgesamt 818 Morden in zwölf Prozent aller Fälle eine Schusswaffe zum Einsatz. [4]

Dass der aktuelle Amoklauf in einem Kino stattfand, ist bittere Ironie, denn wer sich den neuen Batman-Film ansieht, hat schon nach der Vorschau auf die demnächst anlaufenden Streifen gefühlte 5.000 Tote gesehen. In den Kinosälen finden ständig irgendwelche Massaker statt, und zwar auf der Leinwand. Kaum ein Film kommt ohne Blutvergießen aus. Es wird so viel geschossen und gebombt, dagegen ist die Realität in Bagdad oder Kabul geradezu als harmlos zu bezeichnen. Der 24-jährige Amokläufer dürfte daher, falls er regelmäßiger Kinogänger gewesen ist, in den letzten Jahren bestimmt mehr Mordopfer gesehen haben als die Leichenbeschauer von New York City, Los Angeles und Detroit zusammen. Und daheim setzt sich diese visuelle "Kultur der Gewalt" an der Glotze und am PC fort. Behaupte keiner, dieses Bombardement mit Gewaltorgien hätte für die Hirne der Menschen keine Folgen. Das, was man sieht, wird nachgeahmt. Früher, als ich Schüler war (in den sechziger/siebziger Jahren), haben die Kinder und Jugendlichen auf dem Schulhof nur geboxt oder beim Ringen ihre Kräfte gemessen. Auf jemanden einzutreten, der hilflos am Boden lag, war noch verpönt. Irgendwann kamen dann die ersten Kung Fu-Filme aus dem Fernen Osten in unsere Kinosäle herübergeschwappt, plötzlich wurde in bester Bruce Lee-Manier aufeinander eingetreten. Typischer Nachahmungseffekt, viele wollten eben als glorreiche Kung Fu-Kämpfer gelten. Und wie so oft erwiesen sich dabei die dümmsten Zeitgenossen als die größten Schläger. Später wurde "Rambo" Kult. Oder der "Terminator". Die "Helden" wechselten, aber eines blieb: In Hollywood werden wohl 99 Prozent aller Konflikte mit Gewalt gelöst. Und dann wundern sich die Amerikaner über Amokläufer? Lachhaft.

Hierzulande hat ein restriktives Waffenrecht die Verbreitung von Schusswaffen wirksam unterbunden. Doch auch in Deutschland gibt es Amokläufer. Und eine einflussreiche Waffenlobby: die Sportschützen. Obgleich Sportschützen immer wieder als Mörder auftreten, ist das Schießen mit großkalibrigen Schusswaffen nach wie vor nicht verboten. Vor zwei Jahren hatte ich in "Immer diese Sportschützen" eine Auswahl von Todesfällen aus den vergangenen 15 Jahren vorgelegt, seitdem kamen weitere Fälle hinzu. Beispiele:
  • Erst kürzlich hat in Lehrensteinsfeld (Landkreis Heilbronn) ein Ehepaar vermutlich gemeinsam Suizid begangen. Ein Mann erschoss zunächst seine Frau und dann sich selbst. "Zuvor hatte die 43-jährige Frau im Treppenhaus auf eine unter ihr wohnende 33-Jährige geschossen. Diese flüchtete schwerverletzt in ihre Wohnung und rief die Polizei. Anschließend seien in der Wohnung der Schützin mehrere Schüsse gefallen, so die Nachbarin. Dort fand die herbeigerufene Polizei später beide Ehepartner tot auf. (...) Die Ermittler fanden in der Wohnung sieben Schusswaffen, davon zwei Lang- und fünf Kurzwaffen (...). Der Mann war als Sportschütze aktiv." [5]
  • Im Juni 2012 streckte in Villingen-Schwenningen ein Sportschütze den Sohn seiner Lebensgefährtin nieder. Der Mann hat zum Glück überlebt. [6]
  • Im Mai 2012 schoss ein 14-Jähriger in Memmingen mit der Waffe seines Vaters zuerst an seiner Schule und danach auf einem Sportplatz mehrfach um sich. Der Vater ist Sportschütze. Winnenden lässt grüßen. [7]
  • Im Januar 2012 hat ein Sportschütze in Rostock zuerst seine Frau und dann sich selbst erschossen. "Das Opfer wollte sich offenbar trennen, da drehte der 70-Jährige durch." [8]
  • Im April 2011 hat ein Sportschütze in Hamburg in einem Beziehungsdrama den Begleiter seiner Lebensgefährtin erschossen und anschließend sich selbst getötet. Die Frau und ein Mann, der schlichten wollte, wurden verletzt. [9]
  • Im Januar 2011 erschießt in Plochingen eine Frau ihren Ehemann vor den Augen ihrer gemeinsamen Kinder. Die 41-Jährige ist, man ahnt es bereits, Sportschützin. "Die Eheleute waren beide seit Jahren im Schützenverein, besaßen legal mehrere Waffen." [10]
  • Auch der Mann, der am 4. Juli 2012 bei einer Geiselnahme in Karlsruhe vier Menschen und sich selbst erschoss, war Sportschütze. [11]
Doch was soll den Sportschützen schon passieren? Denen kann offenbar kein Massaker, und seien diese auch noch so zahlreich, etwas anhaben, denn Sportschützen haben in der Politik viele Freunde. So ist etwa Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Mitglied in einem Schützenverein. [12] In der Opposition haben die Sportschützen ebenfalls Fürsprecher. "Grüne stellen unbescholtene Jäger und Sportschützen unter Generalverdacht", ließ die FDP-Landtagsfraktion nach dem Mehrfachmord von Karlsruhe verlauten, weil der parlamentarische Geschäftsführer der Landtagsfraktion der Grünen, Uli Sckerl, eine Verschärfung des Waffenrechts auf Bundesebene und weniger Waffen im Privatbesitz forderte. [13] Thomas Blenke, der innenpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, ist seit vielen Jahren Stammgast beim Schützenkreis Calw und wird dort mit den Worten zitiert: "Immer wenn etwas passiert wird reflexartig Verschärfung gefordert, eine weitere Einengung würde ihren Sport zerstören." [14] Ja, ja, die armen Sportschützen. Und die bösen Opfer, warum lassen die sich auch erschießen? Der frühere Justizminister Ulrich Goll (FDP) verzichtete sogar freiwillig auf Leibwächter, führte aber zum Selbstschutz eine Pistole und einen Revolver mit sich. [15] Immerhin trug er seine Waffen bei Landtagsdebatten nicht, wie einst PLO-Chef Jassir Arafat vor der UNO-Vollversammlung, offen im Pistolenhalfter herum.


[Quelle: Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!", PDF-Datei mit 914 kb]

Es ist wenig verwunderlich, wenn man von dieser Seite immer wieder die dümmsten Argumente zu hören bekommt. Ulrich Goll: "Solche Delikte kommen vor, sind aber extrem selten." [16] Extrem selten? Nun ja... (vgl. Opferkarte) Angeblich sind es immer nur "bedauerliche Einzelfälle". Und selbstverständlich heißt es nicht bloß in den USA, leider auch bei uns in Deutschland: "Nicht die Waffe tötet, sondern der Mensch." Als ob die Verfügbarkeit von Waffen keinen Einfluss auf ihre Verwendungshäufigkeit hätte. Folge: Sportschützen dürfen weiterhin großkalibrige Schusswaffen besitzen, obgleich man den Sport auch mit Luftdruckwaffen ausüben könnte. Das wird sich vermutlich auch nach dem nächsten, übernächsten und überübernächsten Amoklauf nicht ändern, weil die Politiker ständig vor der Waffenlobby kuschen und sich damit mitschuldig machen. Doch das ist den meisten anscheinend egal, sonst gäbe es längst ein rigoroses Verbot. Dabei braucht man sich nur auf der Website der Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!" die lange Liste der Opfer anzusehen, die zwischen 1991 und 2012 mit Schusswaffen von Sportschützen getötet wurden, um zu begreifen, dass hier endlich etwas passieren muss. Sonst sind weitere Massaker vorprogrammiert. Denver/Colorado/USA mag weit weg sein, aber die nächste Tragödie kann sich gleich nebenan ereignen.

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[1] Stern-Online vom 20.07.2012
[2] Süddeutsche vom 20.07.2012
[3] Spiegel-Online vom 13.04.2012
[4] Wikipedia, Waffenmissbrauch
[5] Mitteldeutscher Rundfunk, Brisant vom 09.07.2012
[6] Südkurier vom 02.06.2012
[7] Stern-Online vom 22.05.2012
[8] Hamburger Abendblatt vom 12.01.2012
[9] Stern-Online vom 06.04.2011
[10] Die Welt-Online vom 24.01.2011
[11] Die Welt-Online vom 21.07.2012
[12] Wikipedia, Gesellschaftliches Engagement
[13] FDP Landtagsfraktion Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 10.07.2012
[14] Württembergischer Schützenverband, Schützenkreis Calw, 59. Kreisschützentag 2011 in Sulz
[15] Stuttgarter Nachrichten vom 03.05.2010
[16] Bild vom 26.01.2011