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24. Januar 2013, von Michael Schöfer
Wie man es nicht machen sollte


Man kann zu David Camerons Ankündigung eines Referendums über die britische EU-Mitgliedschaft stehen wie man will, die bislang gezeigten Reaktionen sind jedoch überwiegend kontraproduktiv: "Oppositionsführer Ed Miliband warf Cameron vor, dieser handele nicht im Interesse des Landes, sondern aus parteipolitischen Erwägungen. Die fünf Jahre währende Unsicherheit darüber, ob Großbritannien in der EU bleibe, werde der Wirtschaft des Landes nachhaltig schaden, warnte Miliband. Seine Labour-Partei sei gegen eine Volksabstimmung. Ähnlich äußerte sich der stellvertretende Premierminister Nick Clegg von den Liberaldemokraten, die mit den Konservativen in einer Koalition regieren. Ein Referendum sei 'nicht im nationalen Interesse'." [1]

Es kann ja durchaus sein, dass die Aufkündigung der EU-Mitgliedschaft der britischen Wirtschaft tatsächlich schadet, aber was im nationalen Interesse liegt, sollte bitteschön das Volk selbst definieren, schließlich ist es in einer Demokratie der oberste Souverän. Ist das nationale Interesse überhaupt vom Volkswillen zu trennen? Wohl kaum, denn beides ist identisch. Gerne werden die Interessen einer Minderheit absichtlich mit dem nationalen Interesse gleichgesetzt ("wer die Begriffe definiert, bestimmt das Denken"). Doch das ist falsch. Eine Elite wähnt sich vielleicht im Einklang mit dem nationalen Interesse, sie darf das aber nur solange, bis die Mehrheit etwas anderes entscheidet. Kurzum, falls die Briten für den Ausstieg aus der EU votieren, liegt das unstrittig in ihrem nationalen Interesse. Und zwar selbst dann, wenn das Land anschließend wirtschaftliche Nachteile erleiden sollte. Dann liegt es eben im nationalen Interesse, so etwas in Kauf zu nehmen.

Arrogante Politiker, die dem Volk die Entscheidung über das eigene Schicksal vorenthalten wollen und glauben, es stets besser zu wissen als der eigentliche Souverän, machen das Ganze nur noch schlimmer. Sie fordern nämlich bei den Briten zwangsläufig die klassische Verweigerungshaltung heraus ("jetzt erst recht!"). Die fürsorgliche Bevormundung, bei der das Volk wie ein kleines Kind an der Hand genommen und in die richtige Richtung geführt wird, passt einfach nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Genau deswegen ist den Bürgern, und beileibe nicht bloß den Briten, das Konglomerat in Brüssel so suspekt: es ähnelt dem gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat in Kafkas Roman "Das Schloss".

Endlich dürfen die Briten abstimmen (sofern Cameron wiedergewählt wird). Genau das, was sich vermutlich alle anderen Völker ebenfalls wünschen. Von Ausnahmen abgesehen wurde ja praktisch alles über unsere Köpfe hinweg entschieden, so haben beispielsweise die Deutschen weder über den Euro noch über den EU-Vertrag abgestimmt. Nach der britischen Abstimmung herrscht jedenfalls - wie auch immer sie ausgehen mag - Klarheit. Strategien, das Referendum zu vermeiden, sind grottenfalsch. Nein, es geht vielmehr darum, den Briten die voraussichtlichen Konsequenzen einer Austrittsentscheidung aufzuzeigen und alle Fakten vernünftig abzuwägen. Die nüchterne Gegenüberstellung des Pro und Contra, keine emotionale Scheindebatte. Die Skepsis an der Weisheit des Volkes, die das politische Establishment mit seiner ablehnenden Haltung zum Ausdruck bringt, ist beschämend. Wer Begeisterung für Europa wecken will, sollte seine Angst vor dem Volk ablegen. Dies gilt diesseits und jenseits des Ärmelkanals. Ein sozial gespaltenes, von oben aufoktroyiertes Europa hat keine Zukunft. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass Europa generell keine Zukunft mehr hat. Im Gegenteil, man muss das Ganze bloß anders organisieren.

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[1] Süddeutsche vom 24.01.2013