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08. März 2013, von Michael Schöfer
Religiöse Inbrunst


Die einen haben ihren Benedikt XVI., die anderen ihren "Comandante". 1:0 für die Katholiken: Hugo Chávez ist tot, Joseph Ratzinger ist bloß zurückgetreten. Aber um Chávez der Nachwelt zu erhalten, soll er einbalsamiert werden. Er steht damit in einer Reihe mit Lenin, Stalin, Ho Chi Minh, Mao Zedong und Kim Il-sung. Kann sich ein Sozialist Besseres wünschen? Wohl kaum. Andere rümpfen da allerdings ob der zweifelhaften Gesellschaft die Nase. Wie auch immer, jedenfalls scheint der primitive Personenkult fröhliche Urständ zu feiern. Das Ganze atmet den Geruch religiöser Inbrunst: Wolfgang Gehrcke, im Bundestag für "Die Linke" im Auswärtigen Ausschuss, bezeichnet Chávez auf seiner Website in einem Nachruf als "Politiker, Praktiker, Theoretiker, Aufklärer, Lehrer". Kurzum, eine Lichtgestalt. Für Katja Kipping, Bernd Riexinger und Gregor Gysi ist er ein "unerschrockener Verfechter für eine neue, gerechtere Welt". Chávez habe sich entschlossen "für die Verwirklichung seiner Vision von dieser besseren Welt eingesetzt, seiner Vision vom Sozialismus im 21. Jahrhundert". [1]

Unmittelbar nach dem Tod ist wohl nicht die richtige Zeit, Negatives über einen Verstorbenen zu sagen. Obendrein hat Chávez unbestreitbar etwas für die Armen Venezuelas getan (im Gegensatz zu seinen konservativen Vorgängern). Das kann allerdings die dunklen Seiten dieses Mannes nicht überdecken, so nannte Chávez zum Beispiel den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad einen "Bruder", "Revolutionär" und "Kämpfer für eine gerechte Sache". Zeige mir deine Freunde und ich sage dir wer du bist. Auch Beschwerden über die Einschränkung der Pressefreiheit geben allen Anlass, zum verstorbenen Präsidenten Venezuelas kritische Distanz zu wahren. Leider ist das von der Linken nicht zu erwarten, was wiederum Rückschlüsse auf die Haltung dieser Partei zu den Menschenrechten erlaubt. Ihre Einstellung zu Kuba ist ja genauso unkritisch, da werden Menschenrechtsverletzungen gerne nachsichtig mit dem für lateinamerikanische Verhältnisse vorbildlichen Gesundheitswesen aufgerechnet. 2011 hatten die damaligen Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst dem kubanischen Volk ihre "unverbrüchliche Freundschaft und Solidarität" versichert. Dieser anachronistische und im Grunde infantile Personenkult, diese aus vorgestanzten Worthülsen bestehende Sprachregelung ist uns allen noch in guter Erinnerung.

Apropos Kuba: Die kubanische Bloggerin Yoani Sánchez durfte jetzt nach langer Zeit endlich zu einer Auslandsreise aufbrechen. Sánchez' Verbrechen aus der Sicht der kubanischen Führung: Sie schreibt was sie denkt [2], das ist Castro & Co. natürlich ein Dorn im Auge. Doch nicht nur diesen, denn auch hierzulande finden sich Äußerungen, die auf ein merkwürdiges Demokratieverständnis schließen lassen. So schreibt ein gewisser "Pleifel" in den Kommentarspalten des "Freitag": "Ich habe bis heute nirgends gelesen, dass sie sich jemals gegen die völkerrechtswidrige Blockade Amerikas ausgesprochen hat, im Gegenteil. Also, welche Rolle spielt sie wirklich?" Und: "Wenn Frau Sánchez an einer Veränderung Kubas gelegen ist, müsste sie als 1tes die Blockade der USA kritisieren." Soso, muss sie das? Wenn ich einen Artikel über den bösen Peer Steinbrück schreibe, muss ich dann zuerst einen Artikel über die böse Angela Merkel schreiben? Natürlich nicht. Freiheit ist, das zu schreiben was man will. Es gibt hierbei, außer den Grenzen des Strafrechts, keinerlei Beschränkungen oder Verpflichtungen. Und stellen Sie sich mal vor: Man darf sogar Unsinn schreiben. In autoritären Staaten kann man dagegen nicht einmal die Wahrheit schreiben. Sánchez nimmt bloß das in Anspruch, was "Pleifel" - zu Recht - ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt: ohne Erlaubnis einzuholen die eigene Meinung zu äußern.

Es ist die Tragik eines Teils des linken Spektrums, autoritären Gesellschaftsentwürfen unkritisch zu huldigen. Motto: Der Feind meines Feindes (Kapitalismus) ist mein Freund. Die mit religiöser Inbrunst vorgebrachte Verehrung von Hugo Chávez gehört unter diese Rubrik. Hier (und noch viel mehr mit Blick auf Kuba) gilt uneingeschränkt, was Rosa Luxemburg 1918 in weiser Voraussicht in ihrem Text "Zur russischen Revolution" äußerte: "Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker (…). Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag." [3] Fazit: Im Zweifel ist Freiheit stets die "Freiheit der Andersdenkenden".

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[1] Die Linke, Presseerklärung vom 06.03.2013
[2] deutsche Übersetzung ihres Blogs "Generación Y"
[3] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Dietz-Verlag Berlin 1979, Band 4, Seite 362