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16. Juni 2013, von Michael Schöfer
Das ist noch nicht der rauchende Colt


Die USA behaupten, die syrische Regierung hätte im Kampf gegen die Rebellen Giftgas eingesetzt und damit die "rote Linie" überschritten. Bei den Angriffen seien "100 bis 150 Menschen" getötet worden. Schauen wir uns das, was bislang in der Öffentlichkeit über die vermeintlichen Beweise bekannt ist, einmal näher an:

"US-Geheimdienste haben Blutproben mehrerer Syrier auf Spuren chemischer Waffen untersucht und Abbauprodukte des Nervengases Sarin gefunden." [1] "Reporter der französischen Zeitung 'Le Monde' haben heimlich Blut-, Urin- und Haarproben verletzter syrischer Rebellenkämpfer ausser Landes geschafft, um sie auf Spuren von Giftgas untersuchen zu lassen. Entnommen wurden die Proben von Ärzten in syrischen Kliniken, wie das Blatt am Mittwoch in Paris berichtete. In Frankreich übergaben die Journalisten die Proben an Regierungsvertreter, die sie analysieren liessen." [2]

Unterstellen wir, das stimmt, was wird dadurch belegt? Dass im syrischen Bürgerkrieg das Nervengas Sarin verwendet wurde. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wer Sarin verwendet hat, ist jedoch weiterhin offen. Vor kurzem hieß es noch: "Die UN-Kommission hat vier Einsatzorte chemischer Waffen untersucht – allerdings konnte sie deren Gebrauch keiner Kriegspartei zuordnen. Ebenfalls macht der Bericht keine Angabe über die Giftstoffe oder ihre Herkunft. (…) Die Zeugen, auf die sich die UNO beruft, sind Flüchtlinge und medizinische Angestellte; auch hat das 20-köpfige Team Skype-Interviews mit Menschen in Syrien durchgeführt. Insgesamt habe man 430 Gespräche geführt." [3] Substanzen, Abschusssysteme oder Täter hat die Kommission allerdings nicht feststellen können. Das Kommissionsmitglied Carla del Ponte, die frühere Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes, äußerte zunächst, das Nervengas Sarin sei durch die Rebellen eingesetzt worden. Dafür gebe es keine eindeutigen Beweise, ruderte die Kommission später zurück. Es gebe vielmehr "glaubwürdige Hinweise für den Einsatz von Chemiewaffen durch beide Konfliktparteien". [4]

Ende Mai wurden Medienberichte dementiert, türkische Sicherheitsbehörden hätten bei syrischen Rebellen der islamistischen Al-Nusra-Front zwei Kilogramm Sarin sichergestellt. Angeblich seien "Anschläge auf den türkischen Nato-Stützpunkt Incirlik bei Adana oder die in der Türkei stationierten Patriot-Raketen" geplant gewesen. "Der Gouverneur der Provinz Adana, Hüseyin Avni Cos", erklärte, "es sei kein Sarin-Gas sichergestellt worden, jedoch seien verschiedene Chemikalien gefunden worden, die nun untersucht würden." [5] Ergebnisse sind unterdessen nicht mitgeteilt worden. Anfang Juni wurden im Irak fünf Mitglieder der gleichen Gruppierung festgenommen, sie hätten dort Sarin und Senfgas produziert. Andere wissen zu berichten, dass die Rebellen in den Besitz von C-Waffen aus Libyen gekommen seien. [6] Was an den Meldungen wirklich dran ist, steht freilich in den Sternen. Es gibt Gerüchte, es gibt Zweifel, doch was es offenbar nicht gibt, sind echte Beweise.

Das ist der richtige Zeitpunkt, den ehemaligen Außenminister Joschka Fischer zu zitieren: "I am not convinced." (Ich bin nicht überzeugt.) Meiner Ansicht nach hat man in Syrien noch nicht den rauchenden Colt gefunden. Die Hinweise, wer dort tatsächlich Sarin verwendet hat, sind widersprüchlich und recht dürftig. Jedenfalls ist das Ganze noch viel zu unsicher, um auf dieser Grundlage in den Krieg zu ziehen. Falls Teile der Rebellen im Besitz von Giftgas sind, kommen sie natürlich genauso gut als Täter infrage wie Assad. Die syrische Opposition ist in zahlreiche, einander feindlich gesinnte Gruppierungen zersplittert. Ist es denn völlig undenkbar, dass eine zu al-Qaida gehörende Gruppierung wie die al-Nusra-Front Giftgas gegen eine rivalisierende Gruppierung eingesetzt hat, um anschließend den Angriff dem syrischen Militär in die Schuhe zu schieben? Ich weiß, das klingt nach einer veritablen Räuberpistole. Aber erfahrungsgemäß ist die Welt voll von Räuberpistolen.

Wie etwa die nachfolgende: "Saddam Hussein besitzt chemische Waffen; Saddam Hussein hat solche Waffen eingesetzt. Saddam Hussein und sein Regime verschleiern ihre Bemühungen, mehr Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Saddam Hussein ist entschlossen, an eine Atombombe zu kommen. Saddam Hussein und sein Regime schrecken vor nichts zurück, solange sie nicht gestoppt werden." (US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat) Powell präsentierte sogar "Satellitenaufnahmen, aufgefangene Funksprüche und grafische Darstellungen". [7] Wie wir heute wissen, war alles gelogen. Nun sagt er dazu, der Auftritt sei der "Schandfleck" seiner Karriere. Es schmerze ihn noch immer, wenn er daran denke. Und er fühle sich deswegen "furchtbar". [8]

Es ist daher keineswegs auszuschließen, dass auch jetzt erneut Beweise fingiert werden. Und zwar durch die, die an der Internationalisierung des syrischen Bürgerkriegs das allergrößte Interesse haben: die Rebellen. Mit oder ohne aktive Unterstützung aus Washington, Paris und London. Ich will damit nicht behaupten, dass Baschar al-Assad als Täter ausscheidet. Dem brutalen Diktator ist sicherlich jede Schandtat zuzutrauen, doch das allein ist noch lange kein Beweis. Bedauerlicherweise sind westliche Regierungen durch die zielgerichteten Lügen der Vergangenheit total unglaubwürdig geworden. Jetzt rächt sich das, weil ihnen keiner mehr etwas abkauft. Hier trifft die alte Redewendung zu: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht." Die Crux ist: Unsere Politiker haben nicht nur einmal gelogen, sie lügen bekanntlich viel häufiger.

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[1] 20 Minuten vom 14.06.2013
[2] Der Tages-Anzeiger vom 06.06.2013
[3] DiePresse.com vom 04.06.2013
[4] Spiegel-Online vom 04.06.2013
[5] Greenpeace-Magazin vom 31.05.2013
[6] Der Freitag vom 02.06.2013
[7] Deutschlandradio vom 05.02.2013
[8] Süddeutsche vom 19.05.2010