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20. April 2014, von Michael Schöfer
Das war ziemlich naiv


Edward Snowden, der amerikanische Whistleblower, hat zweifellos seine Verdienste und muss sich wohl bis an sein Lebensende vor dem Zugriff der Regierung in Washington fürchten. Schwer zu beurteilen, was in so einer Lage in einem Menschen vor sich geht. Doch sein Auftritt während der Fernsehfragerunde "Direkter Draht" war ziemlich naiv.

"Sammelt Russland auch Informationen von Staatsbürgern, wie es die USA tun?", fragte er Wladimir Putin live vor einem Millionenpublikum. Und was macht der? Mimt natürlich den kompromisslosen Kämpfer für den Rechtsstaat: "'Wie Sie bin ich auch ein ehemaliger Agent - also können wir eine Unterhaltung unter Profis führen. Was die Überwachung angeht, haben wir strenge gesetzliche Regelungen', antwortet der Präsident. In jedem einzelnen Fall sei für ein Abhören ein Gerichtsbeschluss nötig - was eine Überwachung in einem solchen Maß wie in den USA ausschließe. 'Wenn es um Terrorismus geht, gibt es jedoch Ausnahmen von dieser Regelung', so der Präsident." [1] "Wir haben nicht die technischen Mittel und nicht das Geld wie in den Vereinigten Staaten", fügte Putin hinzu. [2]

Putins Liebe zur Wahrheit ist ähnlich stark ausgeprägt wie die der Amerikaner. Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit: Während der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim versicherte er mehrfach, er habe keine russischen Soldaten auf die ukrainische Halbinsel geschickt, und sprach mit Blick auf die vermummten Bewaffneten von "örtlichen Selbstverteidigungskräften". Außer der Schwarzmeerflotte gebe es keine russischen Truppen auf der Krim. Russland sehe zudem keine Notwendigkeit, Soldaten in die Ukraine zu schicken. [3]

Eine Lüge, wie Putin jetzt selbst zugab. Bei den "höflichen grünen Männchen" habe es sich tatsächlich um russische Soldaten gehandelt, deren Einsatz dort aber notwendig gewesen sei. [4] Die russische Soldaten hätten auf der Krim die Selbstverteidigungskräfte unterstützt und, verkündete Putin nicht ohne Stolz, "professionell und besonnen" gehandelt. Auch die Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze, die zuvor hartnäckig bestritten wurden, mutierten binnen kurzem zu "besonderen Sicherheitsvorkehrungen", wie uns Dmitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin, weismachen will. [5] Gleichwohl gebe es keine Einmarschpläne in die Ostukraine. Nein, natürlich nicht...

Zurück zu Snowden. Putin eine Steilvorlage zu liefern, mit der sich dieser als "lupenreiner Demokrat" präsentieren konnte, war falsch. Selbstverständlich wurde in der Sendung nicht über "Sorm" gesprochen, einem System, mit dem "alle Nachrichten, Anrufe und E-Mails abgefangen und russischen Behörden zur Verfügung gestellt werden." [6] Sorm bietet dem Geheimdienst einen unbeschränkten Zugang zu den Datenströmen, denn russische Provider müssen ihre Daten automatisch an Sorm weiterleiten. Und der Geheimdienst muss ihnen dafür nicht einmal Gerichtsbeschlüsse vorlegen.

Der britischen Zeitung Guardian zufolge lässt sich mit diesem Überwachungssystem der unverschlüsselte Datenverkehr im Internet in Echtzeit überwachen. [7] Sorm ermöglicht demnach eine den amerikanischen und britischen Spähprogrammen vergleichbare Totalüberwachung - lediglich mit der Einschränkung, dass es auf Russland begrenzt sein soll, während die NSA die ganze Welt im Fokus hat. Das liegt aber eher an der historisch gewachsenen Route der Datenströme, die hauptsächlich über die Infrastruktur der "Five Eyes" läuft (insbesondere USA und UK).

Die russischen Geheimdienste sind mindestens genauso vertrauenswürdig wie die westlichen. Von daher war von Wladimir Putin, einem ehemaligen Geheimdienstler, gar keine ehrliche Antwort zu erwarten. Er habe eine Diskussion über russische Überwachungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung lostreten wollen, verteidigt sich Snowden. Ausgerechnet im russischen Staatsfernsehen? Gelingen könnte das allenfalls einem "russischen Snowden", also einem Whistleblower aus den Reihen des FSB, der die monströse Überwachung mit Dokumenten belegt. Solange man Putin die Gelegenheit gibt, sich dermaßen leicht aus der Affäre zu ziehen, gewinnt man gegen ihn keinen Blumentopf. Snowdens Frage war deshalb für Putin ein absehbarer Propagandaerfolg. Und Snowden wird kaum die Gelegenheit bekommen, ihn im russischen Staatsfernsehen zu entlarven.

Wladimir Putin ist sicherlich nicht der Teufel, zu dem ihn manche westliche Medien hochstilisieren. Aber er ist auch kein Unschuldsengel, eher ein außenpolitisch riskant kalkulierender Machtpolitiker. Und wenn er sich verkalkuliert, wird seine Popularität bei der russischen Bevölkerung gewiss ebenso rasch abstürzen, wie sie nach der Annexion der Krim gestiegen ist. The higher they climb the harder they fall. Ausgetragen wird der Konflikt nämlich nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf dem Gebiet der Ökonomie. Die Annexion der Krim und ein denkbarer Einsatz von russischen Truppen in der Ostukraine mag vorerst den russischen Nationalismus befriedigen - satt wird davon aber keiner. Doch wenn die russische Volkswirtschaft zu leiden beginnt, sind "höfliche grüne Männchen" vollkommen nutzlos. Putin sollte daher nicht zu hoch pokern, denn am Ende muss er vielleicht passen.

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[1] Tages-Anzeiger vom 17.04.2014
[2] tagesschau.de vom 17.04.2014
[3] Ria Novosti vom 08.03.2014
[4] Tages-Anzeiger vom 17.04.2014
[5] Ria Novosti vom 18.04.2014
[6] Die Zeit-Online vom 13.02.2014
[7] Golem.de vom 07.10.2013