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03. Juli 2014, von Michael Schöfer
Religiöser Wahn


Ich bin gegen islamischen Religionsunterricht an den Schulen. Aber nicht, weil ich islamfeindlich wäre, sondern weil ich generell gegen Religionsunterricht bin - also auch gegen christlichen. Religionen neigen m.E. prinzipiell zu Intoleranz und leider allzu oft zu Gewalt. Wir erleben ja gerade, wie sich im Nahen Osten die stark religiös geprägten Gesellschaften selbst zerfleischen. Gut möglich, dass der Region eine jahrzehntelange durch Gewaltexzesse und unsägliches Leid geprägte Phase bevorsteht (Arabiens Dreißigjähriger Krieg?).

Doch der Westen hat keinen Grund, diesbezüglich auf dem hohen Ross zu sitzen, denn auch hier ist durch Religion hervorgerufener Irrsinn alltäglich. So hat etwa kürzlich in den USA der Supreme Court entschieden, "dass Arbeitgeber aus religiösen Gründen Verhütungsmittel von der Krankenversicherung für ihre Angestellten ausschließen dürfen". [1] Dies tangiere nämlich die Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit der Chefs, wohlgemerkt. Die Religionsfreiheit der Angestellten spielte offenbar keine Rolle. Merke: Religionsfreiheit bedeutet in Amerika nicht, aus freien Stücken irgendeinen Glauben - und sei es den an das "Fliegende Spaghettimonster" - annehmen und praktizieren zu dürfen, sondern vielmehr seinen Untergebenen faktisch die eigene religiöse Überzeugung aufzwingen zu können. Alles höchstrichterlich abgesegnet.

Das ist uns Europäern hinlänglich bekannt: Cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion). Will heißen: Der Fürst eines Landes ist berechtigt, die Religion für dessen Bewohner vorzugeben. Allerdings stammt dieses Prinzip aus dem Jahr 1555, es wurde damals im Augsburger Reichs- und Religionsfrieden festgeschrieben. Lange bevor die USA überhaupt gegründet wurden. Heute ist es freilich ein Anachronismus. Hallo, Supreme Court, willkommen im 21. Jahrhundert! Doch von einem Land, das die Folter wieder hoffähig gemacht hat und - siehe Guantanamo - sogar hinter den Habeas Corpus Act aus dem Jahr 1679 zurückfällt, waren derlei mittelalterliche Entscheidungen eigentlich zu erwarten.

Momentan blickt alles auf die chaotischen Zustände im Nahen Osten, wo die Terrorgruppe "Islamischer Staat" das Kalifat ausgerufen hat. Mein Rat in Bezug auf religiösen Wahn: Blickt nicht nur nach Osten, denn auch aus dem Westen droht euch Ungemach! Lasst in den USA bloß mal die Tea Party das Weiße Haus und den Kongress erobern, dann werden die Schüler dort vermutlich wieder lernen, dass die Erde am 23. Oktober 4004 v. Chr. entstanden ist und Dinosaurier zur gleichen Zeit wie die Menschen lebten. Anfänge gibt es ja bereits. [2] Und wenn es ganz dumm läuft, wird man abermals Hexen Terroristen verbrennen.

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[1] Die Zeit-Online vom 30.06.2014
[2] Süddeutsche vom 27.04.2013