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07. Oktober 2014, von Michael Schöfer
Als vernünftiger Mensch greift man sich an den Kopf


Im Zwei-plus-Vier-Vertrag verpflichtete sich die Bundeswehr, "statt 7.283 Kampfpanzer nur noch höchstens 4.166 besitzen zu dürfen. Die Zahl der Schützenpanzer sollte um mehr als 60 Prozent von 8.322 auf 3.466 Stück sinken. Von 4.690 Geschützen sollten maximal 2.705 verbleiben. Die Luftwaffe durfte statt 1.204 Kampfflugzeugen nur noch höchstens 900 im Einsatz haben. Statt 417 Hubschraubern waren nur 306 Helikopter vorgesehen." [1] Die Sowjetunion zerfiel in 15 selbständige Staaten. Das feindliche Bündnis, der Warschauer Pakt, löste sich komplett auf. Frühere Teilrepubliken der UdSSR und etliche ihrer ehemaligen Vasallen sind heute Mitglied der Nato (Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei). Weitere, die Ukraine und Georgien, klopfen heftig an die Tür der westlichen Allianz.

Inzwischen hat die Bundeswehr weiter abgerüstet und der Bestand an Waffen wird demnächst abermals reduziert. Die Anzahl der Kampfpanzer geht von aktuell 350 auf nur noch 225 zurück, die Anzahl der Eurofighter soll von ursprünglich geplanten 177 auf 140 sinken, die der Tornados von 185 auf 85. Im Vergleich zum Höhepunkt der Ost-West-Konfrontation verbleibt bloß noch ein kläglicher Rest. [2] Unsere Nachbarstaaten haben ihre Panzerarmeen ebenfalls drastisch abgespeckt: Frankreich und Großbritannien besitzen jeweils noch 400 Kampfpanzer, Polen ca. 750, Italien und Spanien jeweils ca. 320, Dänemark und Norwegen je 50 bis 60. [3]

Mit dem Zerfall der Sowjetunion als potenziellem Gegner fielen aber auch die Panzerarmeen fort, vor denen man sich damals im Westen so fürchtete. Invasion? Durchbruch bis zum Rhein innerhalb von 48 Stunden? Derartige Horrorszenarien gehören seit dem Ende des Kalten Krieges der Vergangenheit an. Anfang der achtziger Jahre besaß der Warschauer Pakt rund 25.000 Panzer. [4] Die russischen Streitkräfte sollen heute noch rund 740 T-90 und 2.200 meist kampfwertgesteigerte T-72 besitzen, tausende von älteren Kampfpanzern wurden eingemottet. [5] Außerdem stehen die russischen Tanks nicht mehr an der Elbe, sondern mindestens 2.000 km weiter östlich. Überdies muss man berücksichtigen, dass das größte Land der Erde auch lange Grenzen zu verteidigen hat, beispielsweise die zu China. Das heißt konkret: Nur ein Teil der knapp 3.000 russischen Panzer ist gen Westen ausgerichtet.

Die russische Luftwaffe wird derzeit modernisiert, doch Russland hinkt in der technologischen Entwicklung ein bisschen hinterher. Die Suchoi T-50, ein modernes Mehrzweckkampfflugzeug der fünften Generation, soll erst 2015 in Serie gehen. Die Luftstreitkräfte bekommen insgesamt 200 bis 250 Maschinen. Das amerikanische Pendant, die F-22, ist bereits seit 2005 im Dienst. Die US-Luftwaffe besitzt 183 Maschinen. Von der F-35 wollen die USA und viele ihrer Verbündeten (Großbritannien, Australien, Dänemark, Israel, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Norwegen, Singapur, Südkorea, Türkei) sage und schreibe 3.156 Stück beschaffen. Die französische Luftwaffe hat alles in allem 234 Maschinen des Typs Rafale bestellt. Die britische Royal Air Force beschafft weitere Eurofighter und will die bereits angesprochene F-35 kaufen. Die Russen sind also nicht die Einzigen, die ihre Luftstreitkräfte modernisieren. Hier findet ohnehin ein ständiger Umbruch statt. Innehalten kann sich aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung niemand leisten. Die sechste Generation der Kampfflugzeuge ist möglicherweise unbemannt. Ein außerordentlich teures "Hase und Igel"-Spiel.

Muss man sich in Westeuropa vor Russland fürchten? Seit der Krise in der Ukraine wird diese Frage neu diskutiert. Doch angesichts der realen Stärkeverhältnisse ist die Angst wahrscheinlich übertrieben. Laut SIPRI gaben die vier wichtigsten Nato-Staaten USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland im Jahr 2013 insgesamt 807,9 Mrd. US-Dollar für Rüstung aus. Das Friedensforschungsinstitut taxiert Russland auf 87,8 Mrd. - also lediglich auf knapp 11 Prozent des Aufwands der vier Nato-Mitglieder. [6] In den USA beträgt der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt 3,6 Prozent (607 von 16.799 Mrd. US-$), Russland gibt sogar 4,1 Prozent des BIP aus (87,8 von 2.118 Mrd. US-$). Doch der Kreml müsste, um bei den Militärausgaben in absoluten Zahlen mit den Vereinigten Staaten gleichzuziehen, satte 28,7 Prozent aufwenden. Etwas, das normalerweise nur in Kriegszeiten erreicht wird. Zum Vergleich: Im Zweiten Weltkrieg erreichte in den USA der Anteil der Militärausgaben am BIP im Haushaltsjahr 1944 mit 37,8 Prozent seinen historischen Höchststand. Im Koreakrieg waren es weniger als 15 und im Vietnamkrieg nie mehr als 10 Prozent. [7] Putins Problem: Die russischen Staatseinnahmen betrugen 2013 nur 439 Mrd. US-$. [8] Würde er jeden verfügbaren Rubel ins Militär investieren - es wäre im Vergleich zu den USA trotzdem viel zu wenig.

Fazit: Russland wird selbst auf lange Sicht kaum ernsthaft mit dem Westen konkurrieren können. Wladimir Putin mag Drohungen ausstoßen und ein desolates Land wie die Ukraine zu destabilisieren versuchen. Ob er sich jedoch traut, mit der Nato einen Krieg zu beginnen, steht auf einem anderen Blatt. Ihm dürften die begrenzten Mittel seines Landes bewusst sein. Hoffentlich, denn am gefährlichsten sind Hasardeure, die den Bezug zur Realität verloren haben. Die künftige Entwicklung der russischen Wirtschaft ist wegen den westlichen Sanktionen höchst ungewiss. Sollte das Bruttoinlandsprodukt sinken, wird der Kreml bei der Modernisierung seiner Streitkräfte schnell Finanzierungsprobleme bekommen. China hat diesbezüglich, durch den ökonomischen Background und die anhaltende dynamische Entwicklung, ganz andere Möglichkeiten und könnte sich durchaus zu einer globalen Bedrohung entwickeln. Doch die chinesische Wirtschaft ist stark von den Absatzmärkten in Europa, Japan, Australien und insbesondere den USA abhängig, das Reich der Mitte würde sich demzufolge durch einen militärischen Konflikt mit dem Westen großen Schaden zufügen. Die Motivation, einen Krieg zu beginnen, dürfte entsprechend gering sein.

Man darf Russland sicherlich nicht unterschätzen, die Atommacht besitzt immerhin 8.000 Nuklearsprengköpfe, aber man sollte es angesichts der oben dargelegten Fakten auch nicht überschätzen. Die russischen Streitkräfte sind ebenfalls nur bedingt abwehrbereit, lesen wir zudem. [9] Realistisch betrachtet heißt das: Auch die Russen kochen nur mit Wasser. Der militärisch-industrielle Komplex, vor dem schon US-Präsident Dwight D. Eisenhower gewarnt hat, ist recht einflussreich. Und Angst ist im Rüstungsgeschäft eine äußerst lukrative Währung. Die Militärs wollen sündhaft teure Spielzeuge, die Industrie ist für viel Geld bereit, alles Gewünschte zu liefern. Die Verantwortlichen müssen dem eigenen Volk bloß noch irgendwie die geplante Aufrüstung schmackhaft machen. Am besten bauscht man die Fähigkeiten des potenziellen Gegners auf und moniert gleichzeitig Lücken in der eigenen Abwehrbereitschaft. Wetten, dass in 9 von 10 Fällen prompt der Wehretat erhöht wird? Hat beispielsweise in den sechziger Jahren mit der angeblichen Raketenlücke hervorragend geklappt. Es sieht ganz danach aus, als habe gerade ein neuer Versuch begonnen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Schmarrn wird auf beiden Seiten erzählt. In Russland feiert, soweit es überhaupt je verschwunden war, das Feinbild des angriffslustigen Westens fröhliche Urständ. Wladimir Putin wiederum macht es dem Westen ziemlich leicht, die Angst vor dem russischen Bären aus der historischen Mottenkiste hervorzuholen. Mein Gott, lernen wir Leichtgläubige denn nie dazu? Dämonisierungen gehören hüben wie drüben zum üblichen Propagandawerkzeug.

Als vernünftiger Mensch greift man sich sowieso an den Kopf: 2013 wurden weltweit 1.747 Mrd. US-Dollar fürs Militär ausgegeben. [10] Das sind nach dem aktuellen Wechselkurs 1.383 Mrd. Euro. Was könnte man damit nicht alles anfangen: Vielleicht endlich die zum Himmel schreiende Armut und den Hunger in der Welt besiegen. Krankheiten wie etwa die Malaria ausrotten oder den Analphabetismus erfolgreich bekämpfen. Anstatt Panzer und Kampfflugzeuge zu bauen die Welt mit Erneuerbaren Energien im Überfluss versorgen. Schwerter zu Pflugscharen, das erscheint heute angesichts der zahlreichen Krisen ferner und unrealistischer denn je. Aber manchmal muss man trotz allem auf den Umstand aufmerksam machen, dass wir mit dem Geld, das wir fürs Militär ausgeben, anders eingesetzt viele Konflikte beenden oder sogar gleich deren Entstehung verhindern könnten. Das sündhaft teure Kriegsgerät würde dadurch schlicht und ergreifend überflüssig. Dieser hehre Wunsch widerspricht allerdings der Natur des Homo sapiens, der im Zweifelsfall seinem Bruder eben doch am liebsten den Schädel einschlägt und dabei ungeheuer erfinderisch ist. Die "Krone der Schöpfung" entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine erschreckend kleinkarierte, außergewöhnlich aggressive und ungemein grausame Spezies. In puncto Destruktivität kann es keine andere mit uns aufnehmen. Dabei könnte die Erde eine angenehme und friedliche Heimat für alle Menschen sein. Zumindest potenziell.

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[1] Bundesministerium der Verteidigung, Bundeswehr und Abrüstung
[2] Bundeswehr vom 19.03.2013, Die künftigen Hauptwaffensysteme
[3] DiePresse.com vom 31.03.2014
[4] Wikipedia, Panzer des Kalten Krieges
[5] DiePresse.com vom 31.03.2014
[6] tagesschau.de vom 14.04.2014
[7] Wikipedia, Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Budget
[8] Deutscher Industrie- und Handelskammertag, Wirtschaftsdaten kompakt: Russland, Stand Mai 2014, PDF-Datei mit 205 kb
[9] Deutsche Mittelstands-Nachrichten vom 08.09.2014
[10] Deutsche Welle vom 14.04.2014