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05. Januar 2015, von Michael Schöfer
Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat


"Liebling, ich habe nichts dagegen, wenn Du Dir ein Motorrad kaufen würdest", sagt Sophie unvermittelt zu ihrem Mann Felix. "Aber mein Schatz", antwortet der, "ich habe doch gar nicht die Absicht, mir ein Motorrad zuzulegen, ich denke nicht einmal daran." Doch Sophie insistiert: "Du musst Dir unbedingt einen Helm und Schutzkleidung kaufen, denk' bitte an die Unfallgefahr." Felix erwidert: "Liebe Sophie, ich hab' doch noch nicht einmal einen Motorradführerschein." Daraufhin Sophie: "Ich mein' ja bloß, falls..."

Manche Dialoge, auch wenn sie mitten aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen, sind bei näherem Hinsehen absurd. Genau das erleben wir zur Zeit in Bezug auf Griechenland. In Athen wird es, nachdem die Präsidentschaftswahl gescheitert ist, Ende Januar Neuwahlen geben. So will es die griechische Verfassung. Den letzten Umfragen zufolge liegt das Linksbündnis SYRIZA mit 30,4 Prozent deutlich vor der regierenden liberal-konservativen Nea Dimokratia mit 27,3 Prozent. [1] Es soll zuweilen vorkommen, dass Regierungen die Abwahl droht. Vor allem dann, wenn sie nach dem Eindruck der Wählerinnen und Wähler viel falsch gemacht haben. Diesen Vorgang nennt man gemeinhin Demokratie, die "Herrschaft des Staatsvolkes" (im Unterschied zur Herrschaft einer Partei oder einer Interessengruppe). Am schönsten hat es wohl Abraham Lincoln in seiner Gettysburg-Rede formuliert: "Die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk."

Im Krisenjahr 2008 betrug die griechische Staatsschuld 109,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Trotz harter Sparmaßnahmen (das BIP sank um 24,6 %, das Durchschnittseinkommen um 40 %, die Arbeitslosigkeit stieg von 7,8 % auf 27,5 %) ging sie nicht zurück. Im Gegenteil, sie ist weiter angewachsen, Ende 2013 lag sie bei 174,9 Prozent. [2] SYRIZA-Chef Alexis Tsipras will im Falle eines Wahlsieges bessere Kreditkonditionen aushandeln und die einseitige Sparpolitik zu Lasten der Bevölkerung beenden. Er droht den Gläubigern notfalls mit einem Schuldenschnitt. Aber selbst wenn es keine Neuwahlen gäbe, müsste in Griechenland ein Schuldenschnitt stattfinden, denn von ihren Schulden kommen die Griechen auch dann nicht mehr herunter, wenn der konservative Ministerpräsident Andonis Samaras weiterregieren würde. Insofern besteht diesbezüglich zwischen Tsipras und Samaras faktisch kein Unterschied. Samaras würde nur vorher versuchen, die ohnehin bereits verarmte Bevölkerung noch mehr auszupressen, als das bislang schon der Fall war. Die Frage, die SYRIZA zu Recht aufwirft, ist allerdings: Können die Griechen weitere Sozialkürzungen verkraften?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sehen dem "Grexit" (Greek euro exit), dem Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone, gelassen entgegen. Behaupten sie jedenfalls. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) meint, die Eurozone sei heute wesentlich stabiler und widerstandsfähiger als noch vor einigen Jahren, man sei deshalb nicht erpressbar. Seit die Neuwahlen feststehen wird hierzulande heftig über den Grexit debattiert.

Doch hat Tsipras den Austritt aus der Eurozone überhaupt angedroht? Er will mit den Geldgebern lediglich über die Kreditkonditionen verhandeln, aber von einem Austritt aus der Eurozone war gar nicht die Rede. Insofern wird hier in Deutschland über eine Frage gesprochen, die Tsipras so nie gestellt hat (analog zum eingangs erwähnten Dialog zwischen Sophie und Felix). Da man selbst im Falle eines einseitigen Schuldenschnitts kein Land aus der Eurozone hinauswerfen kann (die Euro-Mitgliedschaft ist unwiderruflich, in den europäischen Verträgen sind weder Austritt noch Rauswurf vorgesehen), stellt das Ganze ausschließlich eine Drohkulisse in Richtung der griechischen Wählerschaft dar, rund 75 Prozent der Griechen wollen nämlich laut einer Umfrage um jeden Preis in der Euro-Zone bleiben. [3]

Mit anderen Worten: Es geht nur darum, sich von außen in die griechische Parlamentswahl einzumischen. Doch was für die Griechen am besten ist, müssen allein die Griechen entscheiden. Das nennt man gemeinhin Souveränität. "Das Selbstbestimmungsrecht jedes souveränen Staates ist ein wesentlicher Bestandteil des Völkerrechts", stellte Angela Merkel vor ein paar Monaten mit Blick auf die Ukraine fest. [4] Und das, was für die Ukraine gilt, muss logischerweise auch für Griechenland gelten.

Wenn SYRIZA die Wahlen tatsächlich gewinnt und im Parlament über die absolute Mehrheit verfügt (die Partei mit den meisten Stimmen erhält dem griechischen Wahlrecht zufolge als Bonus 50 zusätzliche Mandate), wird sich sowieso schnell herausstellen, wer in puncto Schuldenschnitt am längeren Hebel sitzt. Sie kennen ja bestimmt das durchaus zutreffende Bonmot: "Wenn man 10.000 Euro Schulden hat, hat man ein Problem. Wenn man 10 Millionen Euro Schulden hat, hat die Bank ein Problem." Rund 80 Prozent der sich auf insgesamt 319,1 Mrd. Euro belaufenden Staatsschuld Griechenlands (Stand: Ende 2013) tragen mittlerweile die übrigen Länder der Eurozone. [5] Ob man einem zweiten Schuldenschnitt wirklich gelassen entgegensehen kann, ist angesichts angespannter öffentlicher Haushalte offen (mit dem ersten hat man ja die privaten Geldgeber gerettet).

Manche sehen es mit demonstrativem Gleichmut, andere warnen vor schwer beherrschbaren Risiken für die Stabilität der Eurozone. Es ist daher ratsam, nicht zuletzt wegen den verheerenden sozialen Folgen für die griechische Bevölkerung, die Sparpolitik noch einmal zu überdenken. Und gewinnt SYRIZA, ist das beileibe kein Weltuntergang.

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[1] Finanzen.net vom 05.01.2015
[2] Eurostat, Öffentlicher Bruttoschuldenstand Prozent des BIP und Eurostat, Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen und Eurostat, Arbeitslosenquote
[3] FAZ.Net vom 04.01.2015
[4] LVZ-Online, 20.05.2014
[5] Eurostat, Bruttoverschuldung des Staates