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28. Juni 2015, von Michael Schöfer
Ignoranz, Voreingenommenheit und Angst vorm Volk


Das Theater in der Europäischen Union kann man nur noch als Trauerspiel bezeichnen. Die Gemeinschaft hat 507,42 Mio. Einwohner, kann sich aber nicht einmal auf die verbindliche Verteilung von 60.000 Flüchtlingen einigen. Tschechien beispielsweise, ein Land mit 10,5 Mio. Einwohnern, sieht sich außerstande, die von der EU-Kommission vorgeschlagene Quote [1] zu erfüllen und 1.854 Flüchtlinge aufzunehmen. Auch der Slowakei (5,4 Mio. Einwohner) sind 1.104 Flüchtlinge viel zu viel. 1968, nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings, flüchteten allein nach Österreich 162.000 Tschechen und Slowaken. 1956, nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch die UdSSR, wurden dort 200.000 Ungarn aufgenommen. [2] Heute will Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban sein Land mithilfe eines Zaunes gegen Flüchtlinge abschotten, gewissermaßen ein neuer Eiserner Vorhang. Eine Schande! Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hat vollkommen recht, wenn er sagt: "Wenn das Eure Vorstellung von Europa ist, dann könnt Ihr es lassen."

Die EU sei, so lautet ein weitverbreiteter Vorwurf, lediglich ein Europa der Eliten. Bedauerlicherweise tut sie alles dafür, diesen Eindruck zu bekräftigen. Beispiel Griechenland: Bereits 2011 wollte der sozialistische Premierminister Georgios Papandreou sein Volk über die Brüsseler Sparauflagen abstimmen lassen, doch das von ihm vorgeschlagene Referendum fand nie statt. Papandreou musste dem innen- und außenpolitischen Druck weichen. Nachfolger wurde der Ökonom Loukas Papadimos, der bis dahin Professor in Harvard war. Mit anderen Worten: Papadimos besaß nicht einmal ein Parlamentsmandat und wurde, ohne sich dem Votum des Volkes gestellt zu haben, griechischer Ministerpräsident. Und das passierte in der Wiege der Demokratie. Nun will Alexis Tsipras, der seit Januar 2015 amtierende (und gewählte!) griechische Ministerpräsident, das Volk am 5. Juli erneut per Referendum über die Sparauflagen der Troika (EU, IWF, EZB) befragen. Abermals gibt es Druck seitens der EU. Die Verhandlungen über die Fortführung des Hilfspakets wurden abgebrochen, Griechenland taumelt damit wohl endgültig der Pleite entgegen. Die EU hat offenbar panische Angst vor der Willensbekundung der betroffenen Bevölkerung.

Spätestens jetzt geht es bloß noch um Schuldzuweisungen. Der Chef der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, sagte, die griechische Regierung habe den Vorschlag der Institutionen (ehedem Troika) zurückgewiesen und die Verhandlungen einseitig abgebrochen. [3]. Manche Medien berichten jedoch, die Euro-Gruppen-Mitglieder hätten den griechischen Finanzminister Gianis Varoufakis "rausgeschmissen". [4] Dijsselbloem begründete das Auslaufen des Hilfsprogramms mit dem geplanten Referendum über die Sparvorschläge, er kritisierte es als "unfair". [5] Ich sag's ja: panische Angst vor dem Votum des Volkes.

Der Präsident der EU-Parlaments, Martin Schulz, behauptete im ARD-Brennpunkt vom 27.06.2015, man habe den Griechen ein neues Hilfsprogramm in Höhe von "fast 30 Mrd. Euro" angeboten und auf die Mehrwertsteuererhöhung sowie die Rentenkürzung verzichtet. Er könne darin kein demütigendes Angebot erkennen, so Schulz. Doch ob das wirklich stimmt? In dem am Tag zuvor auf dem Tisch liegenden Verhandlungspapier der Troika findet man jedenfalls die Forderung nach einer Mehrwertsteuererhöhung ebenso wie die Forderung nach tiefen Einschnitten bei den Renten. [6] Was die Troika stattdessen vorschlug, um auf die erwünschten Primärüberschüsse zu kommen, bleibt offen.

Leider berichten die Medien recht einseitig, im ARD-Brennpunkt etwa wurde neben Martin Schulz noch Clemens Fuest vom, wie Kritiker meinen, "arbeitgebernahen" Mannheimer ZEW interviewt. Fuest soll übrigens 2016 Präsident des ifo-Instituts und damit Nachfolger von Hans-Werner Sinn werden. Und der plädiert bekanntlich dafür, dass man für die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit auch Hungerlöhne akzeptieren müsse. [7] Doch das nur nebenbei zur Einschätzung der uns dargebotenen Ausrichtung. Jemand, der der Position der griechischen Regierung nahesteht und sie vorurteilsfrei erläutert, suchte man im Brennpunkt vergeblich. Dabei wäre es doch auch interessant gewesen, die Argumente der Gegenseite zu erfahren. Das Ganze hinterlässt folglich den Verdacht der Voreingenommenheit. So stand zum Beispiel die Meinung der Interviewerin Ellen Ehni, die Griechenland als "Spielverderber" titulierte, offenbar schon vor der Sendung fest. Griechenland habe immer wieder die Nerven der Partner strapaziert, sich nicht an Verabredungen gehalten, die eigentlich schon für alle verbindlich waren - mit diesem Verdikt leitete sie ihre Frage an Martin Schulz ein. Professionelle journalistische Distanz sieht zweifellos anders aus. Hinzu kamen die peinlichen Versuche der Politiker, den griechischen Premier wie einen unreifen Schulbuben aussehen zu lassen, denn wann hat Jean-Claude Juncker je Angela Merkel gönnerhaft die Wange getätschelt? Die hätte sich das gewiss verbeten. Und das zu Recht.

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[1] 2,63 % von 20.000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, 3,32 % von 40.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland, Focus-Online vom 27.05.2015
[2] Die Presse vom 27.03.2015
[3] Spiegel-Online vom 27.06.2015
[4] Focus-Online vom 28.06.2015
[5] Süddeutsche vom 28.06.2015
[6] Spiegel-Online vom 26.06.2015
[7] Chrismon vom März 2006