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01. Juli 2015, von Michael Schöfer
Die Verachtung gilt in Wahrheit der Demokratie


Die Menschen vergessen ja gerne, und das vor allem ziemlich rasch. Zugegeben, die Griechen sind an ihrer jetzigen Situation nicht unschuldig, die politische Kultur des Ägäis-Staates ist zu einem Gutteil von Nepotismus, Inkompetenz und Korruption geprägt. Das muss sich natürlich ändern. Aber anstatt den gefallenen Brüdern und Schwestern die Hand zu reichen, haben wir sie mit der Sparpolitik der Troika gequält und damit noch tiefer in den Sumpf gestoßen. Die Wirtschaft ist dort zwischen 2008 und 2014 um ein Viertel eingebrochen, die Arbeitslosigkeit hingegen geradezu explodiert. "Selbst schuld", werfen viele den Griechen an den Kopf. Hätten die Alliierten nach der Schreckenszeit des von uns verursachten Zweiten Weltkriegs die Deutschen ähnlich behandelt, hätte es weder die Londoner Schuldenkonferenz noch den Marshallplan gegeben. Aber heute tun wir so, als ob wir uns damals am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hätten. Wirtschaftswunder, nennen wir diese Phase. Mythos: Das sei alles bloß dem Fleiß der Deutschen zu verdanken. Nein, denn ohne echte Hilfe von außen wäre Deutschland wirtschaftlich für längere Zeit am Boden liegen geblieben. Die Betonung liegt auf "echte".

Nach der Ankündigung des Referendums über die Sparauflagen des Hilfspakets erreicht hierzulande das Griechen-Bashing einen neuen Höhepunkt. Die Ankündigung der Regierung von Alexis Tsipras, dem "demos" (Staatsvolk) in dieser speziellen Frage die "kratía" (Herrschaft) direkt in die Hände zu legen, wird überwiegend heftig kritisiert. Ganz so, als sei Demokratie etwas Ungewöhnliches oder gar Schlimmes. Zur Erinnerung: Dieses Politikkonzept haben erstmals die Griechen ausprobiert, und zwar im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Unsere Vorfahren, die Germanen, entdeckten die Schrift erst 700 Jahre später. Eingeführt haben wir die Demokratie bekanntlich erst 1918, 2.400 Jahre nach der Attischen Demokratie. Und ausgerechnet das, was wir mit gutem Grund von den Griechen übernommen haben, soll nun plötzlich anrüchig sein? Das ist so grotesk, da fehlen einem vor Entsetzen einfach die Worte. Die Verachtung, die die griechische Regierung treffen soll, gilt in Wahrheit der Demokratie.

Wohin diese Verachtung führt, zeigt beispielsweise der Europapolitiker Elmar Brok (CDU). "Zumindest auf den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs werden Beschlüsse im Konsens gefällt, wobei Brok davor warnt, eine griechische Blockadehaltung zu dulden. 'Die EU lässt sich nicht von einem Mitglied erpressen', sagt er. Notfalls müsse ein griechischer Einspruch ignoriert werden." [1] Da werden, wenn es opportun erscheint, kurzerhand demokratische Grundsätze über Bord geworfen. Gleichheit der Staaten, EU-Verträge? Ach, kommen Sie mir doch nicht mit so einem Schmarrn... Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat kein Vertrauen mehr zu den Griechen. Ich vertraue jedoch einer Regierung, die die Demokratie ernst nimmt, wesentlich mehr als Politikern wie Elmar Brok. Deutsche Regierungen sind es von jeher gewohnt, Sachfragen notfalls auch ohne Mehrheit in der Bevölkerung durchzudrücken. Müssten wir nicht Hochachtung vor einer Regierung haben, die anders handelt, die sich selbst nicht so wichtig nimmt, ihr eigenes Volk dagegen umso mehr? Insbesondere, wenn sie bei der Abstimmung eine Niederlage kassieren könnte, die Mehrheit ist ihr nämlich keineswegs sicher.

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[1] Süddeutsche vom 28.06.2015