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05. September 2015, von Michael Schöfer
Risiken und Chancen


Wenn man die Menschenmassen sieht, die sich derzeit über die Grenzen der Nachbarstaaten hinweg in Richtung Deutschland bewegen, weckt das zwiespältige Gefühle. Einerseits ist die Frage, ob wir diesen Ansturm wirklich verkraften können, durchaus berechtigt. Die Integrationsleistung, die uns das abfordert, um soziale Verwerfungen und das Entstehen von Parallelgesellschaften zu verhindern, sind zweifelsohne enorm. Eine kolossale Herausforderung. Andererseits eröffnet uns das auch Chancen, die wir hoffentlich zu nutzen wissen. Sofern die Zuwanderer, die ja im Durchschnitt jünger sind als die einheimische Bevölkerung, erfolgreich vom Arbeitsmarkt absorbiert werden, hat das sicherlich positive Auswirkungen auf unsere Sozialversicherungssysteme.

Die Zuwanderung könnte unsere Wirtschaft beleben, das Bruttoinlandsprodukt ist nämlich trotz Exportboom nur mäßig gewachsen: preisbereinigt 2012 um 0,4 %, 2013 um 0,3 % und 2014 um 1,6 %. [1] In Deutschland wird zu wenig investiert, wir verlassen uns lieber auf die Absatzmärkte in anderen Ländern. Und wenn China weniger Waren "Made in Germany" aufnimmt, dann liefern wir eben mehr in die USA. Das klappt bislang ganz gut, doch ist das natürlich keine Garantie bis in alle Zukunft. Der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen (Ausrüstungen, Bauten, sonstige Anlagen) am Bruttoinlandsprodukt ist hierzulande zwischen 1991 und 2014 von 24,9 auf 20,1 Prozent gesunken. [2] Deutschland lebt von seinen riesigen Außenhandelsüberschüssen (2014: 216,9 Mrd. €) und könnte sich, volkswirtschaftlich betrachtet, einiges leisten. Warum nicht mehr investieren? In Bildung (Stichwort: Sprachkurse für Einwanderer) oder beispielsweise den Wohnungsbau.

Unser Land hat nach dem II. Weltkrieg eine phantastische Aufbauleistung vollbracht. Mehr als ein Fünftel der Wohnungen war dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen, zusätzlich strömten 12,5 Mio. Menschen in die vier Besatzungszonen. "Ende 1947 lag der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone bei 24,3 Prozent. Die amerikanische Besatzungszone blieb demgegenüber mit 17,7 Prozent ebenso zurück wie die britische mit 14,5 Prozent. In der französischen Besatzungszone lag der Flüchtlingsanteil an der Gesamtbevölkerung sogar bei nur rund einem Prozent. Der Grund war die Weigerung der französischen Besatzungsbehörden, Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen." [3] Es folgte dennoch - zumindest im Westen - kein Desaster, sondern vielmehr das "Wirtschaftswunder". In der sowjetischen Besatzungszone waren Industriedemontagen vorherrschend, während die westlichen Besatzungszonen vom Marshallplan profitierten.

Die 1949 neu gegründete Bundesrepublik hat den Wohnungsbau forciert, bis Mitte der siebziger Jahre wurden dort Jahr für Jahr rund eine halbe Million Wohnungen gebaut (Daten aus der ehemaligen DDR lagen mir nicht vor). 1973, es war die Blütezeit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, wurden sage und schreibe mehr als 714.000 Wohnungen fertiggestellt. Eine Meisterleistung. Zum Vergleich: Heute sind es lediglich 209.000 - nicht einmal ein Drittel. Aber warum soll uns, was unmittelbar nach dem Krieg unter wesentlich widrigeren ökonomischen Rahmenbedingungen möglich war, nicht erneut gelingen? Geld ist augenblicklich auf dem Kapitalmarkt genug vorhanden, es schreit geradezu nach einer sinnvollen Verwendung, die Zinsen sind obendrein auf einem historischen Tiefstand. Mit der Integration der Flüchtlinge aus den Krisengebieten könnten wir die Wirtschaft beleben. Wann, wenn nicht jetzt?



Baufertigstellungen von Wohnungen (Westdeutschland) [4]
1950 371.924 1961 565.761 1972 660.636 1983 340.781 1994 505.179 2005 206.772
1951 425.405 1962 573.375 1973 714.226 1984 398.373 1995 498.543 2006 215.741
1952 460.848 1963 569.610 1974 604.387 1985 312.053 1996 416.122 2007 183.798
1953 539.683 1964 623.847 1975 436.829 1986 251.940 1997 400.350 2008 150.222
1954 571.542 1965 591.916 1976 392.380 1987 217.343 1998 372.243 2009 134.755
1955 568.403 1966 604.799 1977 409.012 1988 208.621 1999 369.773 2010 136.698
1956 591.082 1967 572.301 1978 368.145 1989 238.617 2000 336.760 2011 157.579
1957 559.641 1968 519.854 1979 357.751 1990 256.488 2001 267.933 2012 171.170
1958 520.495 1969 499.696 1980 388.904 1991 314.508 2002 240.583 2013 184.036
1959 588.704 1970 478.050 1981 365.462 1992 374.575 2003 226.267 2014 209.091
1960 574.402 1971 554.987 1982 347.002 1993 431.853 2004 238.290


Keiner behauptet, Integration sei leicht, wir werden dabei bestimmt auf viele Probleme stoßen. Aber wenn wir es klug anpacken, nützt es am Ende allen - uns und den Flüchtlingen, die sich derzeit eine neue Heimat suchen müssen. Um nicht missverstanden zu werden: Es hilft keinem, wenn wir den dumpfen Parolen der Rechten ein rosarotes Wolkenkuckucksheim entgegenhalten, an das niemand wirklich glaubt. Es wäre falsch, uns in die eigene Tasche zu lügen, selbst wenn es einem guten Zweck dient. Um es ganz offen zu sagen: Wir können einen so starken Zustrom wie momentan nur kurze Zeit verkraften. Zehn Jahre lang jeweils rund eine Million aufzunehmen, überfordert selbst das reiche Deutschland. Doch die Reduzierung des Flüchtlingsstroms ist eher eine Frage der Bekämpfung der Fluchtursachen. Das dauert. Und dazu muss dem Westen erst noch etwas Hilfreiches einfallen. Jetzt ist zunächst zu klären, wie wir die Flüchtlinge, die sich ja nicht in Luft auflösen, bloß weil das für uns Europäer am bequemsten wäre, möglichst clever integrieren.

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[1] Statistisches Bundesamt, Inlandsproduktsberechnung
[2] Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Investitionen, Tabelle 1.1, PDF-Datei mit 594 kb
[3] Bundeszentrale für politische Bildung, Zwangswanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg
[4] Statistisches Bundesamt, Baugenehmigungen, Baufertigstellungen - Lange Reihen, 2014 (ab 2005 ohne Berlin-West), PDF-Datei mit 240 kb