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20. März 2016, von Michael Schöfer
Von der Fluchtbewältigung hin zur Fluchtvermeidung


In der Flüchtlingskrise argumentiert Angela Merkel - im Gegensatz zu ihren Widersachern - betont rational, weshalb die CDU-Politikerin auch aus dem Lager der Grünen und Sozialdemokraten großen Zuspruch erhält. Vor allem setzt sie sich wohltuend von der weithin üblichen Politik nach dem Sankt-Florian-Prinzip ("verschon' mein Haus, zünd' and're an!") ab, denn sie kalkuliert stets die Folgen für die Europäische Union mit ein. Vor nationalen Alleingängen mit Grenzschließungen und Obergrenzen könne sie daher nur warnen: "Das ist genau das, wovor ich jetzt Angst habe, wenn der eine seine Grenze definiert, muss der andere leiden. Das ist nicht mein Europa", bekundete Merkel Ende Februar bei Anne Will. "Wir müssen Europa zusammenhalten und Humanität zeigen." Und sie präsentierte sich so standhaft wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung: "Nein, ich steuere nicht um", versicherte die Regierungschefin. Die schwierigen Probleme will sie so lösen, "dass wir zu unseren Werten stehen können". [1] Chapeau, Frau Bundeskanzlerin!

Merkel rückt die Maßstäbe zurecht und liest gleichzeitig den EU-Partnern die Leviten: "Das, was die Türkei für weit über 2 Millionen Flüchtlinge, genau gesagt für etwa 2,7 Millionen Flüchtlinge, in ihrem Land seit Jahren leistet, kann gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Es gereicht Europa nicht zur Ehre, sich als Union von 28 Mitgliedstaaten mit 500 Millionen Bürgern bislang so schwergetan zu haben, die Lasten zu teilen. Umso wichtiger ist es, dass wir nun dabei sind, doch wenigstens schrittweise voranzukommen", sagte sie vor kurzem im Deutschen Bundestag. [2] Die Politik der kleinen, aber durchaus zielstrebigen Schritte trägt erste Früchte, die EU hat sich nämlich am 18. März mit der Türkei über die Behandlung von Flüchtlingen geeinigt. Gewiss, das Land am Bosporus ist ein problematischer Partner, aber ohne die Türkei ist eine Lösung der Flüchtlingskrise kaum möglich. Hier gilt es, das Wünschenswerte von den zugegebenermaßen unbefriedigenden Gegebenheiten zu unterscheiden.

Bei Seegrenzen sind Zäune oder Mauern bekanntlich völlig nutzlos. Die Kritiker Merkels fordern zwar ständig eine Änderung ihrer Politik, doch bleiben sie die Antwort auf die Frage schuldig, wie das praktisch umsetzbar sein soll. Unter Beachtung der Humanität und im Einklang mit dem Recht, versteht sich. Und vor allem so, dass die EU dabei nicht zugrunde geht. Von den negativen ökonomischen Auswirkungen ganz zu schweigen. Merkels Kurs, sich über die solidarische Fluchtbewältigung hin zur Fluchtvermeidung zu bewegen, ist logisch und einleuchtend. Wer hingegen ausschließlich die Grenzen blockieren will, blendet die verheerenden Folgen einfach aus. Oder sie sind ihm schnurz.

Ab dem 20. März werden alle Flüchtlinge, die irregulär von der Türkei nach Griechenland kommen, wieder zurückgeschickt. Die Rückführungen beginnen am 4. April. Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeführt wird, nimmt die EU im Gegenzug einen anderen Syrer auf legalem Wege auf. In Griechenland sollen trotzdem Einzelfallprüfungen der Asylanträge stattfinden, es gebe demzufolge keine kollektiven Ausweisungen, die nach internationalem Recht unzulässig wären. Die EU-Mitgliedstaaten nehmen ein Kontingent von maximal 72.000 Syrern auf. Merkel ist sich des Risikos bewusst: "Wenn diese Zahlen nicht ausreichen sollten, dann muss man sagen, dass das ganze Modell nicht funktioniert. Dann müsste man neu nachdenken." [3] Sie rechnet aber nicht mit einem Scheitern. Merkel geht zugleich davon aus, dass sich andere EU-Staaten an diesem Umsiedlungsprogramm beteiligen und Deutschland nicht allein bleibt. "Prinzipiell sind alle Länder mit der Einschränkung von Ungarn und der Slowakei dabei."

Letzteres ist die Achillesferse des Abkommens, denn es gibt noch immer keine verbindliche Quotenregelung, es bleibt also nach wie vor bei der freiwilligen Teilnahme. Die Kanzlerin setzt mithin auf das Prinzip Hoffnung. Sie muss auf das Prinzip Hoffnung setzen, weil es momentan keine andere Möglichkeit gibt, Deutschland kann schließlich die Partnerländer nicht dazu zwingen. EU-Kommissar Günther Oettinger ist jedenfalls optimistisch: "Ich setze auf genügend freiwillige Bereitschaft. Wenn der gute Geist von Donnerstag und Freitag etwas wert sein soll, dann müsste jeder Mitgliedstaat als Zeichen des guten Willens Zahlen melden, die möglichst nah an den bereits vereinbarten Verteilungsschlüssel heranreichen." [4] Damit steht und fällt natürlich die Akzeptanz dieser Lösung. Wenn das Kontingent erschöpft ist und/oder sich viele EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen weiterhin vornehm zurückhalten, stehen wir vor dem gleichen Problem wie zuvor. Angesichts der bisherigen Flüchtlingszahlen, allein im Januar 2016 kamen laut UNHCR in Griechenland 67.415 Flüchtlinge an, ist die bei vielen Beobachtern spürbare Skepsis nicht unberechtigt. Schau'n mer mal.

Um es dennoch klar und deutlich zu sagen: Kein Abkommen mit der Türkei - das würde von vornherein einen weiterhin unkontrollierbaren Zustrom über die Ägäis bedeuten. Kein Abkommen mit der Türkei - das wäre zumindest im Süden gleichbedeutend mit einem Europa der Stacheldrahtzäune. Wer kein Abkommen mit der Türkei will, riskiert obendrein den Kollaps Griechenlands. Es käme dann womöglich zu exotischen Lösungen, etwa der massenhaften Internierung der Flüchtlinge auf einer Mittelmeerinsel. Allerdings ist das Abkommen mit der Türkei lediglich ein Zwischenschritt, langfristig hilft nur die Bekämpfung der eigentlichen Fluchtursachen. Dies gilt nicht bloß mit Blick auf den Bürgerkrieg in Syrien, sondern generell. Wer kommenden Generationen Flüchtlingsströme, die weit über die bereits dagewesenen hinausgehen, ersparen will, muss sich zwangsläufig für eine gerechtere Verteilung des globalen Reichtums und gegen den drohenden Klimawandel engagieren. Jetzt sind weltweit "bloß" 60 Millionen auf der Flucht, in absehbaren Zeiträumen, die unsere Kinder oder Enkel bestimmt noch miterleben werden, sind es vielleicht Hunderte von Millionen, wenn nicht gar Milliarden. Übertrieben? Keineswegs.

Hollywood hat schon genug Dystopien verfilmt, aber die Realität könnte diesmal der Fiktion ziemlich nahekommen. "Zehn der größten asiatischen Flüsse (Ganges, Mekong, Indus, Brahmaputra, Jangtse, Hwangho, Irrawaddy, Salween, Tarim und Amu Darya) entspringen im Himalaya und werden in unterschiedlichem Ausmaß auch aus Schmelzwasser der Himalaya-Gletscher gespeist. Rund 1,3 Milliarden Menschen leben im Einzugsbereich dieser Flüsse, die durch sieben asiatische Megacities fließen." [5] Versiegt das Schmelzwasser der Himalaya-Gletscher, würde das zweifellos gigantische Flüchtlingsströme verursachen. Und dagegen kann man sich wohl kaum erfolgreich abschotten, selbst wenn man das wollte. Wer anderes behauptet, ist realitätsblind.

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[1] Spiegel-Online vom 29.02.2016
[2] Die Bundeskanzlerin, Regierungserklärung vom 16.06.2016
[3] Die Bundeskanzlerin, Pressekonferenz zum Abschluss des Europäischen Rates am 18. März
[4] Die Welt-Online vom 20.03.2016
[5] Climate Service Center Germany, Lässt der Klimawandel die Himalaya-Gletscher schmelzen?