Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



30. April 2016, von Michael Schöfer
Ein ewiges Auf und Ab


Politik ist ein ewiges Auf und Ab, gewiss ist lediglich die unaufhaltsame Änderung der Verhältnisse. Nach dem Zerfall der Sowjetunion glaubten viele, die Demokratie habe jetzt endgültig gesiegt. Vor allem, als 2010 auch noch der "Arabische Frühling" begann. Der bedeute einen mächtigen Schub für die Demokratie, hieß es damals, und die restlichen Diktatoren hätten es in Zukunft viel schwerer, ihre illegitime Machtposition zu bewahren. Poetisch ausgedrückt: Einsam schwimmend in einem Meer von Demokratien. Viele, auch ich, täuschten sich dabei gehörig. Heute kommt einem diese Haltung fast schon ein bisschen naiv vor. In Russland erlebte der Autoritarismus ebenso eine Renaissance wie in den meisten arabischen Staaten. Selbst in Europa erstarken die Gegner der offenen Gesellschaft, was man etwa mit Blick auf Österreich (FPÖ), Frankreich (FN), Deutschland (AfD), Ungarn (Fidesz) oder Polen (PiS) betrübt feststellen muss. Momentan ist die Lage schlimmer als je zuvor, die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Hinterher ist man eben stets schlauer.

Doch vieles war nicht vorauszusehen. Beispiel Türkei: Zwar gab es schon immer Vorbehalte, das Land am Bosporus in die Europäische Union aufzunehmen, aber in den Anfangsjahren veränderte Recep Tayyip Erdogan sein Land zum Positiven: die Wirtschaft erholte sich, die Pressefreiheit erlebte eine kurze Blüte und die Menschenrechtslage wurde allmählich besser. Sogar der Konflikt mit den Kurden schien lösbar. "Die Demokratie in der Türkei ist ein zartes Pflänzchen, das gehegt und gepflegt werden will", schrieb ich vor 10 Jahren. Und: "Ob die Türkei je Mitglied in der EU werden kann, ist unsicher. Aber diese Frage wird ohnehin erst in 10 oder 15 Jahren auf der Tagesordnung stehen. Bis dahin sollte man die Türkei wenigstens fair behandeln und ihr eine echte Chance geben, sich reif für die Mitgliedschaft zu erweisen." [1] Nun muss man leider konstatieren: Erdogan hatte seine Chance, und er hat es vermasselt.

Die Menschenrechtslage in der Türkei ist inzwischen erheblich schlechter geworden, insbesondere die mangelnde Pressefreiheit gibt Anlass zu ernsthafter Sorge. Parlamentspräsident Ismail Kahraman hat kürzlich die Abkehr vom Laizismus (Trennung zwischen Staat und Religion) empfohlen. "Wir sind ein muslimisches Land. Deshalb brauchen wir eine religiöse Verfassung", sagte er auf einer Konferenz in Istanbul. "Warum sollten wir uns als muslimisches Land von der Religion distanzieren?" [2] Im Unterschied dazu legt die türkische Verfassung in Artikel 2 fest: "Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat." Artikel 4 verbietet unmissverständlich jede Abweichung: "Die Vorschrift des Artikels 1 der Verfassung über die Republik als Staatsform sowie die Vorschriften über die Prinzipien der Republik in Artikel 2 (...) sind unabänderlich, das Einbringen eines Änderungsvorschlages ist unzulässig." [3]

Die Türkei auf dem Weg in den Gottesstaat? Ist die Scharia dort bald das höchste Gesetz? Präsident Erdogan dementierte. Noch, muss man bedauerlicherweise hinzufügen. Kahramans Vorstoß wird allgemein als Versuchsballon interpretiert, den dieser wohl kaum ohne Billigung des früheren AKP-Vorsitzenden losgelassen hätte. Kein Wunder, wenn sich die Rechtspopulisten in Europa bestätigt fühlen. In der Tat gibt es große Zweifel, ob der Islam überhaupt mit der Demokratie vereinbar ist. Nach westlichen Maßstäben gibt es unter den Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit allenfalls ein paar Halbdemokratien. Die meisten sind Diktaturen. Doch genau besehen sind solche Zweifel nicht auf den Islam beschränkt, denn Religionen haben generell Probleme mit der Demokratie. Sie sind per se intolerant und traten noch nie als Vorkämpfer der Meinungsfreiheit in Erscheinung. Die freie Rede ist ihnen bestenfalls suspekt, denn sie ist natürlich bei der Verbreitung des Glaubens extrem hinderlich. Gedankenfreiheit und Religiosität gedeihen selten auf dem gleichen Acker. Wir haben dem Christentum unsere Freiheitsrechte in einem langen und zähen Kampf abgerungen. Heute ist es, im Gegensatz zum politischen Islam, domestiziert. Das ist jedoch keine Garantie für die Zukunft, denn erfahrungsgemäß zensieren Religionen alle unliebsamen Gedanken, sobald sie dazu die Gelegenheit haben (darin sind sie sich übrigens mit den Freiheitsfeinden jeglicher Couleur stets einig). Aber wie dem auch sei, jedenfalls ist der Vorstoß Kahramans unbestreitbar äußerst beunruhigend.

Sozial- und Christdemokraten befinden sich derzeit in einem schwierigen Abwehrkampf. Die von ihnen favorisierte liberale Demokratie gerät von zwei Seiten unter Druck. Einerseits von außen, derzeit hauptsächlich durch den Islamismus. Andererseits aber auch von innen, durch den Auftrieb der Rechtspopulisten. Die offene Gesellschaft ist bei beiden denkbar unbeliebt. Nicht ohne Grund kuscheln Rechtspopulisten gerne mit Organisationen aus dem Dunstkreis Wladimir Putins, ihre Interessen dürften überwiegend deckungsgleich sein (autoritärer Nationalismus). Zu allem Überfluss scheinen die bisherigen Volksparteien den gegen sie erhobenen Vorwurf der Abgehobenheit auch noch zu bestätigen.

Ein Beispiel: Das Europaparlament hat kein Initiativrecht, kann also keine eigenen Gesetzentwürfe einbringen. Dies steht in der EU allein der Europäischen Kommission zu, deren Mitglieder wiederum von den nationalen Regierungen (genauer: vom Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs) ernannt werden. Viele sehen darin - zu Recht - ein gravierendes Demokratiedefizit. Nach Artikel 17 Abs. 7 des seit 2009 geltenden Vertrags von Lissabon schlägt der Europäische Rat dem EU-Parlament einen Kandidaten als Präsident der EU-Kommission vor und berücksichtigt dabei das Ergebnis der Wahlen zum Europaparlament. Bei der Europawahl 2014 gab es deshalb erstmals Spitzenkandidaten, die aussichtsreichsten waren Martin Schulz (SPE) und Jean-Claude Juncker (EVP). Juncker ist es dann bekanntlich auch geworden. So weit, so gut. Wenigstens ein bisschen Demokratie, immerhin ein minimaler Einfluss der Wählerinnen und Wähler auf die Zusammensetzung der EU-Kommission (der EU-Regierung).

Und was machen die Politiker, die den Vorhalt, die EU sei bloß ein "Europa der Eliten", beharrlich als unzutreffend zurückweisen? Sie wollen diese Verfahrensweise wieder abschaffen. "Die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten soll künftig wieder hinter verschlossenen Türen stattfinden", titeln folgerichtig die Gazetten. [4] Angeblich plädieren alle Regierungen "bis auf eine" für die Abschaffung. Sind die von allen guten Geistern verlassen? Antwort: Das sind sie! Leben die wirklich, wie vielfach unterstellt, in ihren Regierungszentralen unter einer Käseglocke und haben den Kontakt zur Realität verloren? Antwort: Offensichtlich! Und merken die nicht, dass dieses undemokratische Gebaren Wasser auf die Mühlen der Europafeinde ist? Antwort: Anscheinend nicht! Und all das ausgerechnet kurz vor der Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU (23.06.2016). Jetzt grinst Nigel Farage von der UKIP sicherlich noch mehr als sonst. Thank you very much!

Wie groß die Kluft zwischen Volk und Volksvertreter ist, zeigt das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine: 29 von insgesamt 30 Ratifizierungen sind bereits abgeschlossen. Nirgends durfte das Volk darüber abstimmen - ausgenommen in den Niederlanden. Und dort wurde das Assoziierungsabkommen am 6. April 2016 prompt mit 61 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn goss auch noch Öl ins Feuer, indem er daraufhin empfahl, einfach keine Volksabstimmungen mehr abzuhalten. Once more: Thank you very much!

Wer, wie die österreichische Regierung, aus Panik vor den Rechtspopulisten deren Rezepte kurzerhand übernimmt und dabei die eigenen Anhänger vor den Kopf stößt, gewinnt mit dieser Taktik keinen Blumentopf. Das Gebot der Stunde lautet, mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wagen, nicht weniger. Wer hasenfüßig vor den Freiheitsfeinden zurückweicht, erntet bestenfalls Gelächter, in dem meisten Fällen sogar Verachtung. Mehr Demokratie bedeutet aber nicht nur eine größere Teilhabe des Volkes an den Entscheidungen, sondern auch mehr Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand. Doch die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Oben werden Milliarden eingesackt und zum Teil illegal am Fiskus vorbei im Ausland deponiert (Stichwort: Steueroasen), unten bangen künftige Rentnergenerationen um ihre Ruhestandsversorgung. Luxuswohnungen in den Ballungsräumen? Kein Problem, wenn man über das notwendige Kleingeld verfügt. Bezahlbarer Wohnraum für Krankenschwestern und Polizisten findet sich dort freilich immer seltener. Die Vorstände und Großaktionäre von VW sahnen trotz Abgasskandal und Milliardenverlusten weiterhin Millionen ab, während die Beschäftigten des Autobauers um ihren Arbeitsplatz bangen. Und wie reagiert die Politik? Ja, wie eigentlich? "Etwas ist faul im Staate Dänemark", sagt ein gewisser Marcellus in Shakespeares "Hamlet". Nun, offenbar nicht nur in Dänemark.

Aber man darf die Hoffnung auf Besserung nie aufgeben. Wie eingangs erwähnt, die Politik ist ein ewiges Auf und Ab. Es gibt gute Zeiten, es gibt schlechte Zeiten. Nichts ist beständig. Und vor allem, nichts ist selbstverständlich. Wir müssen uns permanent für den Fortschritt einsetzen, haben dabei aber naturgemäß auch Rückschläge zu verdauen. Mag sich die Welt heute auf dem absteigenden Ast befinden, morgen kann es schon wieder ganz anders aussehen. Oder meinetwegen übermorgen. Wie bitte? Es beschleicht Sie der Verdacht, ich mutiere auf meine alten Tage noch zum Optimist? Auch das ist ein ewiges Auf und Ab. Mal so, mal anders.

----------

[1] siehe Die Türkei fair behandeln vom 08.12.2006
[2] Zeit-Online vom 26.04.2016
[3] Türkisches Recht, Verfassung der Türkei, deutsche Übersetzung, PDF-Datei mit 625 kb, Hervorhebung durch den Autor
[4] Die Presse vom 30.04.2016