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13. August 2016, von Michael Schöfer
Islam-Hysterie


So langsam entwickelt sich in Europa in Bezug auf Muslime eine besorgniserregende Hysterie. Und wir müssen aufpassen, dass wir dabei nicht die Werte aufs Spiel setzen, die wir angeblich verteidigen wollen: Religionsfreiheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Grundrechte schützen nämlich auch oder gerade Minderheiten. Gelassenheit und Vernunft müssen über die Paranoia siegen.

Was ist passiert? Der Bürgermeister von Cannes (Frankreich) hat den Burkini verboten, Frauen dürfen am Strand seiner Stadt keinen mehr tragen. David Lisnard erklärte den Burkini zur "Uniform des extremistischen Islamismus, nicht der muslimischen Religion". [1] Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es die Aufgabe des Staates ist, den Menschen vorzuschreiben, was sie im Privatleben anziehen dürfen und was nicht, denn das widerspricht meiner Auffassung von einer freien Gesellschaft. Wenn wir nur das tolerieren, was uns gefällt, sind wir intolerant. Wir müssen es vielmehr aushalten, dass andere abweichende Moralvorstellungen haben. Und solange dadurch keiner - außer in seinen religiösen Gefühlen oder in seinen Ansichten zur Moral oder Ästhetik - verletzt wird, ist das in einer pluralistischen Gesellschaft hinzunehmen.

Es ist ohnehin immer wieder interessant mitzuerleben, wenn Christen Muslimen erläutern wollen, was ihrer Meinung nach angeblich zum Islam gehört oder nicht. Ist das nicht Sache der Muslime selbst? Sogar wenn etwas objektiv eher auf die rigiden Moralvorstellungen der Wüstenvölker zurückzuführen ist, in deren Gebiet der Islam einst entstand. Soll ich mich etwa als überzeugter Atheist mit dem Papst darüber streiten, ob der Zölibat zum Kernbereich des Katholizismus gehört? Da habe ich wirklich Besseres zu tun. Wenn ein Christ der Meinung ist, er müsse unbedingt wie ehedem Franz von Assisi in Bettlerkleidung herumlaufen, obgleich das die Mehrheit seiner Glaubensbrüder bestimmt für Kokolores hält - so what? Das ist jedem seine eigene Sache. Oder anders ausgedrückt: Das gehört zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Und die Welt wird daran wohl kaum zugrunde gehen.

Außerdem sollten wir uns an unsere eigene Geschichte erinnern, denn auch die Moralvorstellungen des "christlich-jüdischen Abendlandes" haben sich drastisch gewandelt. Es ist noch gar nicht so lange her, da war bei uns der Bikini verpönt. "Am 5. Juli 1946 wurde der Bikini zum ersten Mal im Pariser Bad Piscine Molitor der Öffentlichkeit präsentiert. Dazu musste er [Namensschöpfer Louis Réard] die Nackttänzerin Micheline Bernardini engagieren, da sich kein Mannequin traute, die sehr knappen Badekleider anzuziehen. In den ersten Jahren konnte sich das neue Kleidungsstück noch nicht durchsetzen, da es als schamlos und skandalös galt und es an vielen Badeorten verboten war, u.a. in Italien, Spanien und Portugal. (…) 1965 wurde das Tragen von Bikinis zumindest an einigen Stränden toleriert. Dennoch konnten Trägerinnen des Bikinis von der Justiz bestraft werden. So musste das 17-jährige Fotomodell Ilonka an drei Wochenenden die Fußböden von Krankenhäusern und Altersheimen putzen, weil sie auf dem Münchener Viktualienmarkt dem Bikini zum endgültigen Durchbruch hatte verhelfen wollen." [2] Das waren Zeiten, in denen man Langhaarigen gerne den Kopf geschoren hätte und Rock ’n’ Roll als "Negermusik" verunglimpfte. Jeans im Büro? Völlig undenkbar! Heute kräht kein Hahn mehr danach. Aber das haben wir alles längst vergessen, denn jetzt spielen wir die Rolle der Aufgeklärten, die anderen gerne das verbieten würden, was wir vor etlichen Jahrzehnten noch selbst für moralisch unverzichtbar hielten.

Beispiele:

    
Das Bild links zeigt einen Badeanzug von 1858, das Bild rechts einen von 1885.


Doch auch 1914 mussten sich Frauen sogar in den - im Vergleich zum deutschen Kaiserreich - fortschrittlichen USA noch züchtig verhüllen.


Das letzte Bild zeigt eine Frau im Burkini, die im Jahr 2009 am Strand
von Alexandria/Ägypten photographiert wurde. [3]


Früher waren wir offenkundig genauso prüde. Zwischen dem Bikini, an den hiesigen Stränden mittlerweile die Norm, und der Badekleidung von damals liegen 150 Jahre kulturelle Entwicklung.

Dass sich eine Muslima verhüllt, ob vom Islam vorgeschrieben oder nicht, ist zweifellos Ausdruck der rigiden Moral einer patriarchalischen Gesellschaft und widerspricht unserer modernen Auffassung von Gleichberechtigung. Doch es geht hier einzig und allein um die Frage, ob wir Menschen, die bei uns leben, per Gesetz untersagen sollen, das anzuziehen, was sie - warum auch immer - für richtig halten. Das soll m.E. in einer freien Gesellschaft jeder selbst entscheiden.

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[1] tagesschau.de vom 13.08.2016
[2] Wikipedia, Bikini
[3] Badeanzug 1858: Wikimedia Commons, Bathing suit 1858, Bild ist public domain
Badeanzug 1885: Wikimedia Commons, USpatent310171bathing1885, Bild ist public domain
Badeanzug 1914: Wikimedia Commons, BessieBayStLouis1914, Photograph by Alexander Allison, Bild ist public domain
Burkini 2009: Wikimedia Commons, Burqini, CC BY-SA 2.0-Lizenz, Urheber: Giorgio Montersino from Milan, Italy (Gesichtsverpixelung durch den Autor des Artikels)