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10. November 2016, von Michael Schöfer
Erbärmlich oder zynisch


Entweder ist das Durchlavieren unseren Politikern so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht mehr anders können, als ihrer jahrzehntelangen Konditionierung zu folgen. Oder sie haben sich nüchtern für eine Kosten-/Nutzen-Abwägung entschieden.

Es ist wahrlich eine Tragödie, Recep Tayyip Erdogan ist gerade dabei, sein Land zugrunde zu richten. Der Angriff auf die Demokratie ist tiefgreifend: kritische Medien werden geschlossen, Journalisten und Oppositionspolitiker verhaftet, Richter, Beamte und Lehrer suspendiert. Alles unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung. Der Autokrat schreckt vor nichts zurück, Erdogan hat sogar einen Richter der UN einsperren lassen, obgleich dieser diplomatische Immunität genießt. Unverhohlen macht er Gebietsansprüche geltend und scheint von der Wiederauferstehung des Osmanischen Reiches zu träumen. Zudem werfen Menschenrechtsorganisationen der Türkei Folter vor.

Und was macht die Europäische Union? Die bezeichnet die Entwicklung in der Türkei zwar als äußerst besorgniserregend, die Beitrittsverhandlungen sollen aber trotzdem weitergehen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat angekündigt, den politischen Dialog mit der Türkei fortzuführen, immerhin wird sie die Situation sehr aufmerksam verfolgen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will die Verhandlungen sofort abzubrechen, wenn die Türkei die Todesstrafe einführt. Die Zerschlagung der Demokratie und die Missachtung der Menschenrechte reichen ihm dafür offenbar nicht aus. Auch Deutschland betreibt Appeasementpolitik: Der Deutsche Bundestag hat soeben beschlossen, den Bundeswehreinsatz auf dem Luftwaffen-Stützpunkt in Incirlik zu verlängern. 445 Abgeordnete dafür, 139 dagegen, zwei Enthaltungen.

Sind unsere Politiker wirklich so ängstlich? Das Bild, das die Europäer derzeit vermitteln, ist jedenfalls erbärmlich. Unter Umständen tun sie auch nur so. Bei einer rationalen Kosten-/Nutzen-Abwägung stellen sie dem Leid der türkischen Opposition den Nutzen des mit der Türkei geschlossenen Flüchtlingspakts gegenüber. Die Beitrittsverhandlungen abzubrechen, würde Erdogan vermutlich kaum umstimmen. Vom Flüchtlingspakt profitieren wir aber schon länger - und würden es gerne weiterhin tun. Doch das ist Zynismus. In meinen Augen gibt es weder für das eine noch für das andere irgendeine Rechtfertigung. Wer sich bloß auf symbolischen Protest beschränkt, macht sich mitschuldig. Wer aus der Situation einen Vorteil ziehen will, ebenfalls.