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12. Februar 2017, von Michael Schöfer
Marc Beise und das Renommee der schreibenden Zunft


Wer wissen, warum den traditionellen Medien vermehrt Misstrauen entgegenschlägt, sollte sich mit Marc Beise befassen, seines Zeichens Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung. "Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in der Größenordnung von 8,50 Euro, der schon mehr oder minder fix vereinbart ist, wird Jobs kosten, darin sind sich fast alle Experten einig", schrieb er am 6. November 2013. Der gesetzliche Mindestlohn wurde trotzdem am 1. Januar 2015 eingeführt. "Geglückte Operation", titelte die SZ am 28. Januar 2016: "Forscher bewerten den Mindestlohn positiv. Er hat weder zu großen Jobverlusten geführt, noch der Konjunktur geschadet. (…) Weder hat es einen nennenswerten Abbau der Beschäftigung noch eine Konjunkturdelle gegeben, auch nicht in den neuen Bundesländern. Stattdessen haben vor allem gering qualifizierte Arbeitnehmer vom Mindestlohn profitiert." Marc Beise und "fast alle Experten" hatten sich getäuscht. Kann ja mal vorkommen, Irren ist menschlich.

Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, spielte Beise weiterhin die Kassandra und prophezeite konsequenterweise das Heraufziehen eines dunklen Zeitalters: "Der Mindestlohn wird noch viele Arbeitsplätze kosten", warnte er am 29. Juni 2016 mit erhobenem Zeigefinger. Motto: Wenn die Menschen keine Furcht mehr haben, werden sie bekanntlich übermütig und fallen vom wahren Glauben ab. Andersherum wird ein Schuh draus: Wenn Wirtschaftsredakteure von der Realität widerlegt werden, stampfen sie wie ein kleines Kind rechthaberisch mit den Füßen auf dem Boden herum. Allerdings will sich die vorhergesagte Katastrophe auch zwei Jahre nach Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes noch nicht einstellen: "Mehr Arbeitsplätze durch Mindestlohn", las man am 19. Januar 2017 in der Süddeutschen. Sorry, Mr. Beise.

Schlimm wird’s, wenn Journalisten mit Fakten, nun ja, besonders großzügig umgehen. Das Vorhaben der Grünen sei ein "Frontalangriff gegen die bürgerliche Mitte der Gesellschaft", behauptete Marc Beise am 18. Mai 2013 in Bezug auf das Steuerprogramm der Grünen. Er suggerierte, Durchschnittsverdiener seien massiv von Mehrbelastungen betroffen. Da durfte man zu Recht aus der Haut fahren, es wäre nämlich von Vorteil gewesen, Beise hätte das Ganze vor seiner Philippika erst einmal akribisch durchgerechnet. Aber die neoliberale Ideologie scheint ihm offenbar besser zu gefallen als schnödes Zahlenwerk. Ach, kommen Sie mir doch bloß nicht mit Fakten! Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat kurz danach die Steuerpläne der Parteien wissenschaftlich begutachtet. "Die geplanten höheren Steuersätze würden nur die einkommensstärksten fünf Prozent aller Haushalte 'in nennenswertem Umfang' belasten. (…) 'Insgesamt verlieren beim SPD-Vorschlag 7,4 Prozent aller Haushalte, also knapp drei Millionen Haushalte', heißt es in der Untersuchung. Bei den Grünen gehörten 6,3 Prozent aller Haushalte zu den Verlierern." Die Mitte der Gesellschaft? Eher eine privilegierte Minderheit. Stand übrigens am 24. Juli 2013 in der Süddeutschen. Ob Beise seine Vorwürfe zurückgenommen hat? Jedenfalls ist mir nichts davon bekannt.

Schnee von gestern? Hat Marc Beise wenigstens dazugelernt? Keineswegs, denn nun widerspricht er sich sogar selbst. Warum? Vermutlich, weil es ihm ideologisch in den Kram passt, denn diesmal geht es gegen SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

"Wer wirklich etwas verändern will, muss die Gesellschaft bei ihren eigenen Wirkmechanismen packen. Muss Politiker, Unternehmer, Arbeitgeber und Gewerkschaften daran erinnern, dass Staat und Wirtschaft am besten gedeihen, wenn ihre Mitglieder top ausgebildet sind. Das betrifft erstens eine solide Grundbildung für alle, beginnend bei der frühkindlichen Betreuung über alle weiteren Stationen der Ausbildung inklusive der lebenslangen Weiterbildung", stellte Beise am 7. Juni 2015 nicht einmal zu Unrecht fest. "Dirigismus und Planwirtschaft, in dem die Einkommen von irgendwem zentral festgelegt werden", lehnt er jedoch ab. "Den Reichen nehmen hilft den Armen nicht", insistierte er am 14. März 2016. "Umverteilung? Hohe Erbschaftsteuern? Viel wichtiger ist etwas anderes." Nämlich, sich um die Chancengleichheit zu kümmern. "Man kann das sehr konkret machen, kann über den Kita-Ausbau reden, über mehr Lehrer und Erzieher, die deutlich besser bezahlt werden müssen, über bessere Schulen und Förderprogramme in ärmeren Stadtvierteln." So weit, so gut. Argumente, die man durchaus berücksichtigen sollte.

Damals konnte Beise natürlich noch nicht ahnen, dass der charismatische Martin Schulz SPD-Kanzlerkandidat wird und die Union Umfragen zufolge gehörig in die Bredouille bringt. Wahrscheinlich sieht er durch ihn seine neoliberale Ideologie bedroht, denn nun rückt der Journalist kurioserweise von seinen eigenen Empfehlungen ab. Schulz habe kein klares Konzept zur Besteuerung der Superreichen, wirft er ihm am 10. Februar 2017 vor. Anstatt Steuersenkungen "will Schulz lieber staatliche Leistungen ausweiten. So soll Bildung von der Kita bis zur Uni Eltern, Schüler und Studenten nichts kosten. Mit solchen Maßnahmen gebe man 'den Menschen viel mehr zurück als den einen oder anderen Euro auf dem Konto'. Also kein klares Steuerkonzept, sondern eher Umverteilung mit der Gießkanne. Das ist teuer und vermutlich unrealistisch, bindet aber gedankliche Ressourcen."

Ei der Daus! Hat Marc Beise - siehe oben - nicht ehedem selbst empfohlen, bereits im frühkindlichen Alter auf eine "solide Grundbildung für alle" zu achten? Ist diese Strategie mit einem Mal falsch? Dass die Einstellung von Lehrern und Erziehern sowie deren deutlich bessere Bezahlung Geld kostet, das schließlich irgendwoher kommen muss, dürfte selbst Beise nicht verborgen geblieben sein. Wer aber, wie der Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen, Steuersenkungen und zugleich Steuermehrausgaben fordert, muss sich nach der Seriosität seiner Vorschläge fragen lassen. Einerseits mahnt er die Einhaltung der Schuldenbremse an ("Die schwarze Null muss stehen"), andererseits will er keine Umverteilung zulasten der Vermögenden. Kommt das nicht der Quadratur des Kreises gleich? Korrigieren Sie mich bitte, meine Schulzeit liegt ja mittlerweile Jahrzehnte zurück, aber ist 2 plus 2 nicht noch immer 4?

Die kostenlose Kita steht übrigens bei der SPD schon seit langem in den Programmen. So hat sie etwa vor der Bundestagswahl 2013 auf einem Parteikonvent die schrittweise Abschaffung der Beiträge für Kinderkrippen und Kitas gefordert und sich mittelfristig die gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Uni zum Ziel gesetzt. Martin Schulz sagt mithin nichts Neues, er sagt es lediglich auf erfrischende Art und Weise anders.

Mit seiner inkonsistenten und teilweise faktenwidrigen Argumentation trägt Beise sicherlich nicht zum Renommee der schreibenden Zunft bei. Und wer 2015/2016 den Kita-Ausbau noch gut findet, aber plötzlich im Wahljahr 2017 dagegen ist, nur weil der sozialdemokratische Kanzlerkandidat damit zumindest temporär Erfolge einheimst, verliert in den Augen der Leserinnen und Leser an Vertrauen. Oder hat sich Marc Beise nur ungeschickt ausgedrückt bzw. wurde er bloß falsch verstanden? Ich fürchte, er hat das genau so gemeint, wie es in der Süddeutschen zu lesen war.