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01. Mai 2017, von Michael Schöfer
Die EU bellt, aber sie beißt nicht


Es sollte Entschlossenheit signalisieren, und das ist der Europäischen Union diesmal durchaus gelungen: Innerhalb von rekordverdächtigen 15 Minuten haben sich die 27 Staats- und Regierungschefs einstimmig auf die die Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen geeinigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte harte Verhandlungen mit London an: "Ein Drittstaat, und das wird Großbritannien sein, kann und wird nicht über die gleichen Rechte verfügen oder womöglich sogar bessergestellt werden können als ein Mitglied der Europäischen Union." [1]

Weniger entschlossen zeigt sich die EU gegenüber der Türkei, die Bundesregierung will auch nach dem Verfassungsreferendum nichts von einer Beendigung der Beitrittsverhandlungen wissen: "Wir halten den Abbruch der Gespräche für die völlig falsche Reaktion", sagte Außenminister Sigmar Gabriel. Dieser bringe nichts, überdies bleibe die Türkei ein großer Nachbar. Doch solange die Beitrittsverhandlungen nicht für beendet erklärt werden, bekommt die Türkei von der EU ziemlich viel Geld überwiesen: u.a. 540 Mio. Euro zur Stärkung der Demokratie sowie 389 Millionen Euro zur Stärkung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Für Projekte zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit wurden bereits 344,4 Mio. Euro zugesagt, für den Umbau der Energieversorgung 93,5 Mio., für den Klimaschutz 644,6 Mio., für den Transportsektor 442,8 Mio., für die Landwirtschaft 912 Mio., für Bildung und Beschäftigung 456 Mio. [2] Zwischen 2007 und 2013 flossen insgesamt 4,8 Mrd. Euro in die Türkei, bis 2020 sollen es weitere 4,45 Mrd. sein. Übrigens unabhängig von der im Rahmen des Flüchtlingspakts vorgesehenen Hilfe in Höhe von 3 Mrd. Euro für die Jahre 2016 und 2017.

Einerseits zeigt Brüssel also demonstrative Härte gegenüber den Briten, die sich jedoch bloß von der EU scheiden lassen wollen, aber nach wie vor eine Demokratie bleiben. Andererseits glänzt die EU gegenüber der Türkei mit unverständlicher Nachgiebigkeit, obgleich sich das Land am Bosporus schon längst von den demokratischen Grundwerten entfernt hat.

Großbritannien befindet sich nach dem Austritt ebenfalls noch immer dort, wo es seit tausenden von Jahren liegt: 34 km vor dem europäischen Kontinent, nur durch den Ärmelkanal vom Festland getrennt. Und die Briten werden für die EU, Austritt hin oder her, auch weiterhin ein wichtiger Handelspartner bleiben. Deutschland exportierte 2016 Waren im Wert von 86,1 Mrd. Euro nach Großbritannien und importierte von dort welche im Wert von 35,6 Mrd. Wir erzielten im Außenhandel mit Großbritannien einen Überschuss von 50,5 Mrd. Euro. [3] Mit keinem anderen Land erwirtschaftet Deutschland einen höheren Überschuss, es ist unser fünftwichtigster Handelspartner.

So könnte nach dem vollzogenen EU-Austritt Großbritanniens im Jahr 2019 die kuriose Situation eintreten, dass das Drittland Türkei ungeachtet der Despotie Erdogans Milliarden von der EU überwiesen bekommt, während das demokratische Drittland Großbritannien völlig leer ausgeht. Noch kurioser: Das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien müsste künftig, je nach Ergebnis der Austrittsverhandlungen, eventuell sogar Zoll für seine Exporte in die EU entrichten, während die Türkei Industriegüter zollfrei in die EU exportieren darf, weil sie Mitglied der Europäischen Zollunion ist. Kurzum, die EU würde die autokratische Türkei besser behandeln als das demokratische Großbritannien. Eigentlich unvorstellbar. Und während türkische Politiker die Europäer als Nazis und Faschisten verunglimpfen, ist von der britischen Premierministerin Theresa May nichts dergleichen zu hören.

Welches Zeichen sendet die EU damit? Offenbar sind ihr, allen Sonntagsreden zum Trotz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie doch nicht so viel wert. Politiker mit autokratischen Anwandlungen lernen daraus: Die EU ist zwar ein Hund, der laut bellt, sich aber nicht zu beißen getraut. Wenn es hart auf hart kommt, zieht man nämlich in den europäischen Hauptstädten den Schwanz ein. Kein Wunder, wenn die Erdogans, die Orbans oder die Kaczyńskis dieser Welt wenig auf die Äußerungen aus Brüssel geben. Passiert ja eh nichts, also können sie in ihren Heimatländern weiterhin die Demokratie abschaffen. Das ist traurig, aber leider wahr.

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[1] Donaukurier vom 27.04.2017
[2] FAZ.Net vom 26.04.2017
[3] Statistisches Bundesamt, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland