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27. August 2017, von Michael Schöfer
Ist das wirklich Zensur?


Verbote von Publikationen sind immer problematisch. Kein Demokrat wünscht sich Verhältnisse wie in China oder im Iran, wo die Bürger mithilfe der Internetzensur bevormundet werden. Ich bin dafür, das Grundrecht der Meinungsfreiheit möglichst weit auszulegen - ganz so, wie es das Bundesverfassungsgericht tut: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen. Vielmehr darf Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. [1] "Auch scharfe und überzogene Kritik entzieht eine Äußerung nicht dem Schutz des Grundrechts. Werturteile sind vielmehr durchweg von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung 'wertvoll' oder 'wertlos', 'richtig' oder 'falsch', emotional oder rational ist." [2]

"Das Verbot von indymedia.linksunten ist ein illegitimer Akt der Zensur", schreibt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, auf ihrer Website. [3] Ich fürchte, sie verwechselt da etwas. Nicht jede Äußerung fällt unter die Meinungsfreiheit. Der Aufruf, Jelpkes Wahlkreisbüro in Brand zu setzen, wäre beispielsweise zu Recht strafbar. Unabhängig davon, welche Gesinnung diesem Ansinnen zugrunde läge. Straftaten sind keine Meinungen! "Das indymedia.linksunten-Projekt steht für eine linke, antikapitalistische Gegenöffentlichkeit. Diese in ihrer Reichweite und internen Diskussionen einzuschränken, betrachte ich als willkürliche Beschneidung der Meinungs- und Pressefreiheit", fährt Jelpke fort. Dem muss man widersprechen, denn was hat die teilweise sogar berechtigte Kritik am Kapitalismus mit der Aufforderung zu respektive der Rechtfertigung von Gewalttaten zu tun? Nichts. Das wird von Jelpke bloß miteinander vermengt. Und heraus kommt das hässliche Wort "Zensur".

Beispiele für Äußerungen auf indymedia.linksunten:
  • "Die RAF hat den Kampf sehr entschlossen geführt; so lange, bis das Projekt beendet wurde! Aber das muss nicht für immer sein! Irgendwann wird wieder zurückgeschossen!"
  • "Heute haben wir die Kabelstränge entlang mehrerer Hauptstrecken der Bahn in Brand gesetzt. ... Wir greifen ein in eines der zentralen Nervensysteme des Kapitalismus."
  • "In den Nächten um das letzte Wochenende haben in Deutschland mehrere Angriffe auf Bullenstrukturen stattgefunden. Mit diesen Aktionen wollen wir uns in den Widerstand gegen G 20 einreihen. Es gibt immer ein Ziel, das sich lohnt angegriffen zu werden." [4]
Das sind wahrlich keine schützenswerten Meinungen mehr. Wer die Auswüchse des Kapitalismus kritisiert, darf das weiterhin tun. Das ist nicht einmal verfassungsfeindlich, weil der Kapitalismus gar keinen Verfassungsrang hat, die Bundesrepublik ist nämlich laut Grundgesetz "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Artikel 20 Abs. 1). Über die Wirtschaftsordnung schweigt sich das Grundgesetz aus. Auch der Aufruf, Angela Merkel am 24. September an der Wahlurne stürzen zu wollen, ist vollkommen legal. Keine Revolution, sondern Wahlwerbung. Niemand wird daran gehindert, sich angewidert von der Konsumgesellschaft abzuwenden und alternative Wirtschaftssysteme zu propagieren. Der Pluralismus der Verfassung lässt eine große Bandbreite zu. Nur sollte man solche antikapitalistischen Überzeugungen nicht mit kriminellen Handlungen verwechseln, denn das sind zwei unterschiedliche Paar Stiefel.

Und bitte nicht mit zweierlei Maß messen. Die Rechtfertigung der RAF ist okay, die des NSU dagegen nicht? Was würde Ulla Jelpke zum Verbot einer vergleichbaren rechtsextremen Website sagen, auf der die Rückkehr des Nationalsozialistischen Untergrunds propagiert wird? Voilà: Sie sagt, von rechten Websites wie Politically Incorrect (PI) gehe eine Gefahr für die freiheitliche Grundordnung aus. [5] "Wie viele Kübel hasserfüllten Drecks bis hin zu offenen Gewaltdrohungen muss das Internetportal Politically Incorrect noch über Muslimen ausschütten, bis die Bundesregierung die von ihr benannte Grenze zu einer verfassungsschutzrelevanten Islamfeindlichkeit überschritten sieht?" [6] "Wenn die Regierung den gleichen Maßstab, den sie bei antisemitischer Hetze anlegt, auch für muslimfeindliche Hetze benutzen würde, wäre PI vermutlich schon längst verboten", betont die Linken-Politikerin. [7] Da kann man ihr sogar beipflichten. Doch was ist mit ihren eigenen Maßstäben? Heißt das, dass Jelpke ein Verbot rechter Hetzer begrüßen würde, während sie das Verbot linker Hetzer ablehnt? Offenbar. Es darf aber keine doppelten Standards geben.

Die Grenze zur Meinungsfreiheit zieht das Strafrecht. Kritik an den herrschenden Verhältnissen bleibt (siehe oben) nach wie vor erlaubt. Und das ist, solange wir in einer Demokratie leben und die Gesetze dem Geist unserer Verfassung entsprechen, auch gut so. Von einer Bundestagsabgeordneten erwarte ich genug Differenzierungsvermögen, um zwischen diesen beiden Sachverhalten unterscheiden zu können. Ulla Jelpke lässt dieses Differenzierungsvermögen leider vermissen. So war sie etwa für das Verbot der rassistischen NPD (die Partei sei "nach wie vor ein strukturelles Rückgrat der gewalttätigen rechtsextremen Szene" und "für alle, die in ihr Feindbild passen, eine reale Gefahr") [8], fordert aber zugleich, das Verbot der PKK aufzuheben und sie von der EU-Terrorliste zu streichen [9]. Bei rechten Musikveranstaltungen befürwortet sie "ein schärferes Vorgehen gegen diese musikalische rechte Hetze" [10], das schärfere Vorgehen gegen indymedia.linksunten kritisiert sie hingegen als Zensur. Ist rechtsradikale Hetze verwerflich und linksradikale Hetze akzeptabel? Den türkischen Präsidenten Erdogan nennt sie - zu Recht - einen Diktator [11], vergleichbare Äußerungen über den venezolanischen Präsidenten Maduro sind mir von ihr nicht bekannt. Ob sie gegenüber dem venezolanischen Regime genauso solidarisch ist wie ihre Partei?

Wir leben zum Glück in einem Rechtsstaat. Wenn das Verbot von indymedia.linksunten ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig ist, können die Betreiber vor den Gerichten klagen. Ob sie das tun, obgleich sie das "Schweinesystem" ablehnen, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls steht ihnen der Rechtsweg bis hin zum Bundesverfassungsgericht oder zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offen. Dann werden wir ja sehen, wer recht hat: Ulla Jelpke oder Thomas de Maizière. Generell sollte aber mit dem Instrument des Verbots von Publikationen äußerst sparsam umgegangen werden, weil dadurch tatsächlich leicht eine Kultur der Zensur entsteht, der dann viele unliebsame Meinungen zum Opfer fallen, die keineswegs illegal sind. Eine starke Demokratie kann viel aushalten und geht nicht gleich bei jeder Grenzüberschreitung zugrunde.

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[1] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 08.02.2017, 1 BvR 2973/14
[2] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 25.08.1994, 1 BvR 1423/92, dokumentiert bei aufrecht.de
[3] Website von Ulla Jelpke vom 25.08.2017
[4] Süddeutsche vom 25.08.2017
[5] Berliner Zeitung vom 09.09.2011
[6] Migazin vom 13.06.2014
[7] Islamische Zeitung vom 20.09.2011
[8] Neues Deutschland vom 17.01.2017
[9] Website von Ulla Jelpke vom 26.11.2014
[10] Deutschlandfunk Kultur vom 09.08.2017
[11] Website von Ulla Jelpke vom 01.03.2017