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12. Januar 2018, von Michael Schöfer
Die Anziehungskraft der Küchentücher war riesengroß


Es gibt große und kleine Diebe. Die großen schaffen es oft in die Schlagzeilen und lassen uns häufig den Glauben an die Menschheit verlieren. Das ist gewissermaßen die Champions League der Schurken. Doch es existiert ganz unten auch eine Kreisliga der Schurken. Die kleinen Diebe stehen uns im Alltag viel näher, rufen allerdings in uns hinsichtlich des Glaubens an die Menschheit nicht minder negative Gefühle hervor.

Kurz vor Weihnachten habe ich in meinem Stadtteil auf dem Bürgersteig eine Geldbörse gefunden. Es war, neben diversen Ausweisen und Karten, sogar noch Geld darin. Ungefähr 20 Euro. Nicht viel, aber ich hätte durchaus davon essen gehen können. Habe ich natürlich nicht gemacht, sondern die Geldbörse beim hiesigen Polizeiposten abgegeben. Vollständig, versteht sich. Am Finderlohn war ich genauso wenig interessiert. Die Eigentümerin ist bestimmt froh gewesen, den Inhalt zurückzubekommen. Für mich war das selbstverständlich, weil es meiner Auffassung von Anstand und Ehrlichkeit entsprach.

Heute habe ich im Supermarkt eingekauft und bin anschließend noch zum Bäcker gegangen. Beim Hinausgehen vergaß ich dort die zuvor im Supermarkt gekauften Küchentücher, was ich zu Hause gleich bemerkte. Also schnurstracks zurück zum Bäcker, meine Abwesenheit hat vielleicht gerade mal vier oder fünf Minuten gedauert, doch die Küchentücher waren bereits weg. Abgegeben wurden sie nicht, es muss sie also jemand mitgenommen haben.

Die 1,35 Euro kann ich leicht verschmerzen, habe dadurch aber wieder einmal ein Stück meines Glaubens an die Menschheit verloren. Warum wurden sie mitgenommen und nicht beim Verkaufspersonal abgegeben? Wäre letzteres nicht anständig und ehrlich gewesen? Die Anziehungskraft von scheinbar herrenlosen Küchentüchern muss riesengroß gewesen sein. Und ich frage mich: Warum nutzen so viele eine sich bietende Gelegenheit prompt aus? Warum gibt es so viele unehrliche Menschen? Sich an vier Rollen Küchentüchern bereichern - geht’s noch?

Ich wünsche der "Finderin" respektive dem "Finder" nicht die Pest an den Hals, sondern lediglich das: Sie/er möge versehentlich den Inhalt einer Rotweinflasche über das geliebte Sofa oder den neuen Teppich ausschütten und sich dann persönlich von der Reinigungswirkung MEINER Küchenrollen überzeugen. Gelegentlich folgt die Rache ja auf dem Fuße. Und wenn nicht alle Rotweinflecken herausgehen - so what? Ich kenne zumindest einen, der darüber kein bisschen traurig wäre.

Und falls ich demnächst wieder eine Geldbörse finden sollte? Na, dann gebe ich sie eben ab. Trotz allem. Die Welt ist zu wertvoll, um sie den Dieben zu überlassen.