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13. Februar 2018, von Michael Schöfer
Unter der Käseglocke des Berliner Regierungsviertels


Es ist atemberaubend, wie rasch sich unser Parteiensystem selbst zerlegt. Aktuellen Umfragen zufolge kommt die Union bloß noch auf 29,5 Prozent und die SPD auf geradezu katastrophale 16,5 Prozent. [1] Wäre jetzt Bundestagswahl, kämen beide "Volksparteien" noch nicht einmal auf die notwendige Kanzlermehrheit, um gemeinsam eine Regierung zu bilden. Sie bräuchten einen dritten Partner. Es gäbe buchstäblich keine "große" Koalition mehr, sondern nur noch eine kleine. Warum eigentlich? Deutschlands Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit geht peu à peu zurück, die Steuereinnahmen sprudeln, der Staat erwirtschaftet Überschüsse - und doch sind offenbar viele mit der Politik unzufrieden und fühlen sich nicht mehr angemessen vertreten.

Vielleicht, weil es hinter der glänzenden Fassade eher matt aussieht. Fast die Hälfte der Bevölkerung (44,2 %) hatte 2016 ein Nettoeinkommen von weniger als 1.500 Euro zur Verfügung. [2] Betrug der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen in Westdeutschland in den siebziger Jahren (= sozialliberale Ära) noch regelmäßig mehr als 70 Prozent, wurde dieser Wert in der gesamten Regierungszeit von Angela Merkel zum Teil deutlich unterschritten (Tiefpunkt 2007: 63,6 %). Er erreichte 2016 lediglich 68,3 Prozent, während er 1982, im letzten Jahr der Regierung Helmut Schmidt, bei 73,2 Prozent lag. [3] Ein Land, in dem wir gut und gerne leben (Wahlslogan der CDU 2017)? Offenbar nicht für alle.

monatliches persönliches Nettoeinkommen
von … bis unter … EUR Personen in 1.000 Anteil in %
kein Einkommen
15.030 18,2 %
unter 500 € 7.768 9,4 %
500 € - 900 € 10.653 12,9 %
900 € - 1 300 € 12.208 14,8 %
1 300 € - 1 500 € 5.873 7,1 %
1 500 € - 2 000 € 11.486 13,9 %
2 000 € - 2 600 € 8.234 10,0 %
2 600 € - 3 200 € 3.905 4,7 %
3 200 € und mehr 5.272 6,4 %
selbst. Landwirte 160 0,2 %
ohne Angabe 1.836 2,2 %

82.425 100 %*
*Rundungsdifferenz von 0,2 %



Oder formulieren wir es so: Nur einer Minderheit geht es richtig gut, der große Rest hat mehr oder minder stark zu kämpfen. Angesichts der horrenden Wohnungspreise und Wohnungsmieten in den Ballungsräumen spürt inzwischen sogar die Mittelschicht, wie knapp das eigene Einkommen bemessen ist. Und wer in Hamburg, Stuttgart oder München arbeitet, kann mit den günstigen Mieten in Görlitz herzlich wenig anfangen. Da können Merkel & Co. noch so viel drum herumreden oder beschönigen. Doch diese Realität wird unter der Käseglocke des Berliner Regierungsviertels anscheinend nicht mehr wahrgenommen. Oder die Brisanz des Problems wird verkannt, weshalb die Interessen der Besserverdienenden nach wie vor Vorrang genießen. Das, was uns der Entwurf des Koalitionsvertrages als Lösung anbietet, ist oft genug der berühmt-berüchtigte Tropfen auf den heißen Stein. Oder ein Placebo. Hört sich schön an, ist aber faktisch nutzlos. Während sich CDU und SPD momentan vor allem um die Verteilung und Besetzung von Ministerien streiten, schüttelt die Bevölkerung im Rest des Landes über diese Pöstchenjäger verständnislos den Kopf. Und dann wundern sich die Regierenden, wenn sie immer weniger Stimmen bekommen. Echt unbegreiflich.

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[1] Wahlrecht.de, Sonntagsfrage Bundestagswahl, INSA / YouGov vom 12.02.2018
[2] Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2017, Seite 42, PDF-Datei mit 12,4 MB
[3] Statistisches Bundesamt, a. a. O., Seite 326 f