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14. Juni 2018, von Michael Schöfer
Von edlen Helden und armen Würstchen


Ist der Kapitalismus ehrlicher? Im Grunde schon, denn er setzt ja ganz bewusst auf die Gier des Einzelnen. Gelogen wird hier zwar genauso wie andernorts, aber als Ziel wird meist der eigene Vorteil anvisiert. Egoismus anstatt Altruismus, Eigennutz anstatt Gemeinwohl. Ganz anders die vermeintlichen Sozialisten, die angeblich nur das Wohl der Gesellschaft im Fokus haben. Doch in Wahrheit sind sie nicht weniger egoistisch - nur eben genau um diesen Aspekt verlogener, weil bei ihnen die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders groß ist.

Anfang der achtziger Jahre haben wir uns aus Solidarität mit dem kleinen mittelamerikanischen Land den Magen ruiniert, weil Nicaragua-Kaffee zumindest damals alles andere als magenschonend war. Aber das nahm man gerne in Kauf, um die - zweifellos notwendige - Revolution zu unterstützen. Alles für einen guten Zweck. Doch mittlerweile ist man durch die politischen Verhältnisse in Nicaragua erneut um eine Illusion ärmer geworden. Die Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN), die 1979 den Diktator Anastasio Somoza zum Teufel jagte, propagierte einen demokratischen Sozialismus, die Sandinisten waren weniger radikal und erheblich toleranter als ihre kubanischen Genossen unter Fidel Castro. Ein Hoffnungsschimmer. Gewissermaßen in Anlehnung an den 1968 niedergeschlagenen Prager Frühling ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" und lateinamerikanischer Prägung.

An der Basis mag das heute noch gelten, aber der Revolutionsführer von einst ist inzwischen kaum noch von seinem Vorgänger zu unterscheiden. Ernesto Cardenal, ein früherer Mitstreiter, bezeichnet Ortega inzwischen "als einen Dieb, der nur noch nach Reichtum und Macht für sich und einige eng mit ihm verbundene Familien strebe". [1] Doch Cardenal hat sich geirrt, Daniel Somoza Ortega [sic] ist nicht nur ein Dieb, sondern er lässt in seinem Land auch foltern und morden. [2] Ein korrupter Despot, dem das Blut seiner Opfer an den Händen klebt. Nicht anders als viele seiner Vorgänger. All das, was er früher bekämpfte, ist er nun selbst.

Wie so oft erweisen sich die scheinbar selbstlosen Kämpfer für die Interessen des Volkes letztlich als charakterschwache Egoisten und armselige Individuen. Nur die Propaganda stilisierte sie zu edlen Helden. Die Vita von Daniel Somoza Ortega beweist abermals, dass man keinem trauen kann. Hehre Ziele sind oft bloß eine Potemkinsche Fassade zur Täuschung der eigenen Anhänger, die Wahrheit ist leider viel ernüchternder. Wenn jemand offen zugibt, dass es ihm nur ums Geld geht, ist er dadurch zwar nicht unbedingt sympathisch, aber wenigstens aufrichtig. Er heuchelt nicht so viel. Insofern ist der Kapitalismus vielleicht wirklich ehrlicher.

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[2] Süddeutsche vom 11.06.2018