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02. August 2018, von Michael Schöfer
Sind Staaten beleidigungsfähig?


Ach, immer diese heiligen Symbole, immer dieser nationale Pathos. Kann man Staaten überhaupt beleidigen? Laut Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches ist die "Herabsetzung der türkischen Nation" strafbar, ehedem galt das vor der Strafrechtsreform im Jahr 2008 für das gesamte "Türkentum" (was immer das auch konkret sei). Ein beliebter Gummiparagraph zur Drangsalierung missliebiger Journalisten oder Schriftsteller. Kein Witz: In der Türkei ist es sogar verboten, das "Nationalgetränk" Ayran zu beleidigen. Darüber musste sich 2015 ein Unternehmen belehren lassen, das Ayran in einem Werbespot als zum Einschlafen bezeichnete. Für die "grundlose Beleidigung" des Getränks hagelte es eine buchstäblich "saftige" Geldstrafe von umgerechnet 70.250 Euro. [1] Auf welche Art und Weise das Gericht in der Beweisaufnahme ermittelt hat, ob sich das "Nationalgetränk" tatsächlich beleidigt fühlte, der inkriminierte Werbespot könnte ihm ja auch völlig schnuppe gewesen sein, ist allerdings nicht überliefert.

Doch man braucht für solche skurrilen Urteile gar nicht in die Ferne schweifen: In Deutschland hat gerade das Amtsgericht Berlin-Tiergarten einen Mann zu 2.500 Euro Geldstrafe verurteilt, weil er eine zerschnittene Deutschlandfahne (nur noch Schwarz-Rot anstatt Schwarz-Rot-Gold) im Internet veröffentlicht hat. Grundlage des noch nicht rechtskräftigen Urteils ist § 90a StGB (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole). Wer öffentlich die Flagge der Bundesrepublik Deutschland verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, heißt es dort. "Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder (…) entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt."

Für die Richterin war die Strafbarkeit erfüllt: "Mit seiner Geschichte stehe die Fahne für das Recht des deutschen Staates auf Selbstdarstellung und damit stellvertretend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Er habe 'Verachtung für die mit der Flagge symbolisierte staatliche Ordnung zum Ausdruck bringen wollen.' (...) Das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie die Verteidigung des Angeklagten argumentiert hatte, trete damit zurück." [2] Es bleibt abzuwarten, ob höhere Instanzen nicht doch die Meinungsfreiheit als höherrangig ansehen und die Verurteilung wieder rückgängig machen.

Mithilfe des § 90a StGB wird eine Gesinnung bestraft und das ist per se fragwürdig. "Anders als dem einzelnen Staatsbürger kommt dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Die Zulässigkeit von Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats", urteilte das Bundesverfassungsgericht. "Die Schwelle zur Rechtsgutverletzung ist (…) erst dann überschritten, wenn aufgrund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden." [3] Ob diese höchstrichterliche Auslegung auch im vorliegenden Fall trägt, wird man sehen. Jedenfalls wird unser Staat kaum an einer zerschnittenen Fahne in den schier unendlichen Weiten des Internet zugrunde gehen.

Welche Haltung steht hinter diesem Paragraph? Hierzulande wird man mittlerweile schon kritisiert, wenn man bei der Nationalhymne nicht inbrünstig mitsingt. Zumindest dann, wenn es um einen Fußballer mit Migrationshintergrund geht, der dies angeblich als Integrationsleistung zu erbringen habe. Blödsinn, die Anerkennung unserer Verfassung und die Achtung der Gesetze reicht vollkommen. Mehr darf niemand erwarten. Ohnehin kommt das nationale Pathos meist aus einer Ecke, in der man es selbst mit den Grundwerten der Verfassung nicht so genau nimmt. Hassparolen brüllen und dabei die Deutschlandfahne schwenken - das kennen wir ja inzwischen zur Genüge. Die Erfahrung zeigt: Je autoritärer das Gemeinwesen, desto größer die verordnete Liebe zum Staat. Sollen die Bürger wirklich in Ehrfurcht vor der Flagge erstarren? Wozu? Dieses obrigkeitsstaatliche Denken ist anachronistisch und undemokratisch. Die Substanz eines Staates besteht aus seinen Werten - das, wofür er politisch steht und wie er handelt. Staatssymbole dienen lediglich als Staffage, um die schlichteren Gemüter zu beeindrucken. Mit einem Wort: Firlefanz. Last but not least ist der Staat für die Bürger da, nicht umgekehrt. Es ist mithin viel wichtiger, dass der Staat die Rechte seiner Bürger achtet.

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[1] FAZ.Net vom 09.11.2015
[2] Neues Deutschland vom 01.08.2018
[3] lexetius.com, BVerfG, Beschluss vom 28.11.2011, 1 BvR 917/09