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07. August 2018, von Michael Schöfer
Willy Brandt muss ein Zauberer gewesen sein


"Die Wohnungsnot ist in Deutschland die soziale Frage schlechthin", schreibt Thomas Öchsner in der Süddeutschen und macht eine Reihe von Vorschlägen, wie man die Misere bekämpfen kann. Mit einer Bodensteuer zum Beispiel, um der Bodenspekulation Vorschub zu leisten. Und das ist beileibe kein Handwerkszeug aus der sozialistischen Mottenkiste. "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen", fordert etwa die aktuell gültige bayerische Landesverfassung (Artikel 161 Abs. 2). Nicht zu fassen - in der weiß-blauen Heimat der stockkonservativen CSU. Man muss solche gesetzlichen Grundlagen nur anwenden. Und wo sie fehlen, sind sie zu schaffen.

Das ist dringend notwendig: 1990 gab es noch 2,87 Mio. Sozialwohnungen [1], 2017 waren es hingegen bloß 1,2 Mio. [2] Prägnanter kann man staatliches Versagen nicht auf den Punkt bringen. Wohnungen sind eben kein x-beliebiges Wirtschaftsgut, das man den Marktkräften überlassen darf. Von diesem Irrglauben sollten sich die Konservativen endlich verabschieden. Wohnen muss jeder, auf ein Auto kann man notfalls auch mal verzichten, wenn es einem zu teuer ist. Der Verzicht auf eine Wohnung bedeutet Obdachlosigkeit.

Allerdings warnt Öchsner vor Illusionen: "Selbst wenn Geld unbegrenzt fließen würde, dauert es viele Jahre, bis größere Wohneinheiten mit Mietbindung aus dem Boden gestampft sind." [3] Wie hat das der Willy Brandt damals bloß geschafft: 714.000 Wohnungen allein im Jahr 1973! Wenn wir das erste Amtsjahr außer Acht lassen (die Amtsübernahme war schließlich jeweils erst im Herbst) wurden in den fünf Jahren unter Willy Brandt (1970-1974) insgesamt 3,01 Mio. Wohnungen gebaut, in den zwölf Jahren unter Angela Merkel (2006-2017) jedoch lediglich 2,61 Mio. [4] Wobei die Zahlen bei Brandt nur für Westdeutschland gelten, die bei Merkel indes für Gesamtdeutschland. Von der Struktur, luxuriöse Eigentumswohnungen oder bezahlbare Mietwohnungen, ganz zu schweigen.

Aus heutiger Sicht ist Brandts Bautätigkeit unglaublich, obwohl wir in den siebziger Jahren als Volkswirtschaft nicht annähernd so wohlhabend waren. Willy Brandt muss ein Zauberer gewesen sein. Warum geht heute nicht, was damals offenbar kein Problem war? Vielleicht hatten wir seinerzeit keine Versagerregierung dran, sondern eine, die sich noch um die Bedürfnisse des "kleinen Mannes" gekümmert hat. Aber letzteres kann man ja selbst von der SPD nicht mehr ruhigen Gewissens behaupten.

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[1] Statista, Immer weniger Sozialwohnungen in Deutschland
[2] tagesschau.de vom 04.08.2018
[3] Süddeutsche vom 05.08.2018
[4] Statistisches Bundesamt, Baugenehmigungen, Baufertigstellungen - Lange Reihen bis 2017, Excel-Datei mit 240 kb