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16. Oktober 2018, von Michael Schöfer
Für was plädieren Sie?


Stellen wir uns einmal kurz vor, Angela Merkel würde im Kanzleramt Horst Seehofer erst foltern und anschließend erschießen. Rein hypothetisch natürlich, nur als Gedankenexperiment. Selbstverständlich würde ich mir nie erlauben der Kanzlerin zu unterstellen, so ein Verbrechen zu planen, geschweige denn es auch noch auszuführen (selbst wenn sie vielleicht in den vergangenen Monaten gelegentlich daran gedacht haben mag). Was würde passieren? Nun, Deutschland ist zweifelsohne ein Rechtsstaat, Merkel müsste sich daher für ihre Tat vor Gericht verantworten. Könnte sie die Tat vertuschen? Dazu bräuchte sie Hilfe, etwa bei der Beseitigung der Leiche (der CSU-Vorsitzende ist ja kein Leichtgewicht, den kann man nicht so einfach durchs Kanzleramt schleifen). Und ich baue darauf, dass sie die nicht bekäme. Oder sagen wir: nur sehr, sehr schwer bekäme. Ihre Personenschützer, alles Polizisten des Bundeskriminalamts, würden da wohl kaum mitspielen. So viel Vertrauen in den Rechtsstaat muss sein.

Zunächst sah es ja so aus, als gebe es für die Urheberschaft des Anschlags auf den russischen Ex-Geheimdienstler Sergej Skripal keine stichhaltigen Beweise. Die britische Regierung weigerte sich, der Öffentlichkeit Belege für ihre Behauptung zu präsentieren, hinter dem Nowitschok-Anschlag stecke der Kreml. Doch mittlerweile verdichten sich die Hinweise, dass der russische Militärgeheimdienst GRU für das Attentat verantwortlich ist. Offenbar war das Vorgehen des GRU so dilettantisch, u.a. wurden Pässe mit nahezu identischen Seriennummern verwendet, dass man inzwischen mindestens zwei GRU-Angehörige als mutmaßliche Täter identifizieren konnte. Die der Öffentlichkeit nunmehr bekannten Indizien klingen recht plausibel und sind sehr überzeugend. Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnete Skripal kürzlich als "Vaterlandsverräter" und "Dreckskerl". Hat er tatsächlich den Mordversuch in Auftrag gegeben? Man darf davon ausgehen, dass der GRU zumindest nicht ohne seine Billigung gehandelt hat.

Die Bundeskanzlerin würde also angeklagt, gegen Russland hat der Westen bereits Sanktionen verhängt. Und was passiert mit Saudi-Arabien und China? Da sind die Verteidiger der westlichen Werte mit einem Mal ziemlich kleinlaut. Der saudische Journalist Jamal Khashoggi ist vor knapp zwei Wochen im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul verschwunden, vermutlich wurde er dort misshandelt und ermordet. Gui Minhai, ein Hongkonger Verleger und Buchhändler mit schwedischer Staatsangehörigkeit, wurde gleich zweimal von chinesischen Beamten verschleppt - einmal aus seinem Urlaubsort in Thailand und ein weiteres Mal in Anwesenheit von schwedischen Diplomaten aus einem Zug in der Nähe von Peking. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, wie Saudi-Arabien und China mit den Menschenrechten umzugehen pflegen. In beiden Ländern herrscht staatliche Willkür, aber mit beiden Ländern machen wir auch gute Geschäfte.

Warum nehmen wir das so einfach hin? Warum ernten die Machthaber in Riad und Peking nicht jedes Mal geharnischte Proteste? Warum scheuen wir uns, die Verbrechen mit Sanktionen zu bestrafen? Beide Länder missachten nicht nur die Menschenrechte und verachten die Demokratie, beide treten inzwischen auch jenseits ihrer Grenzen als Aggressor auf (Saudi-Arabien im Jemen, China im südchinesischen Meer). Obendrein ist das Völkerrecht in ihren Augen lediglich eine vernachlässigbare Größe. [1] Ginge es uns wirklich um die vielbeschworenen westlichen Werte (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Achtung der Menschenrechte etc.), müssten wir beispielsweise die einzig wahre chinesische Demokratie anerkennen: die Republik China (Taiwan). Aber 23 Mio. potenzielle Kunden sind eben bei weitem nicht so viel wert wie 1,4 Mrd. potenzielle Kunden. Und wer will es sich angesichts der einträglichen Gewinne schon mit den Machthabern in Peking verscherzen? Niemand. Dabei päppeln wir auf diese Weise doch bloß Diktaturen, sprich wir machen unsere eigenen Feinde stark.

Diktatoren werden ermutigt, wenn man ihnen keine Grenzen aufzeigt, wenn sie für ihre Missetaten keine einschneidenden Folgen zu spüren bekommen. Eigentlich liegt es mir völlig fern, Lenin zu zitieren. Doch er hatte vollkommen recht, als er das Wesen des Kapitalismus mit folgendem Satz charakterisierte: "Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen." Daran hat sich bis heute nichts geändert. Leider. Ich weiß, manche nennen das Realpolitik. Andere nennen das allerdings Zynismus. Wieder andere eine bodenlose Dummheit. Für was plädieren Sie?

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[1] vgl. Der bedrohliche Riese vom 14.07.2016