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10. März 2019, von Michael Schöfer
Der Verdacht als Waffe


Dass die "MeToo"-Debatte alle Anzeichen einer Hysterie aufweist, schreibe ich ja hier nicht zum ersten Mal. Das Problem ist nicht, dass es keine sexuelle Belästigung gäbe und alle Anschuldigungen völlig aus der Luft gegriffen wären. Das eigentliche Problem ist, dass der Verdacht auch als Waffe benutzt wird und es neuerdings sogar Versuche gibt, faire Gerichtsverfahren zu unterbinden. Damit haftet an der "MeToo"-Debatte der üble Geruch einer Hexenjagd.

Zwei Beispiele:

Am 9. April 2019 finden in Israel die Wahlen zur Knesset statt, und erstmals seit langem muss sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud) ernsthaft um die Parlamentsmehrheit und somit um sein Amt Sorgen machen. In den Umfragen führt momentan der ehemalige Generalstabschef Benny Gantz mit der von ihm gegründeten Listenverbindung "Blau-Weiß" das Bewerberfeld an. "Nach einer repräsentativen Umfrage, die die Zeitung Yedioth Ahronoth beim Midgam Institut in Auftrag gegeben hatte, würde Blau Weiß 35 Mandate bekommen, der Likud lediglich 29." [1] Auch in Israel wird im Wahlkampf mit harten Bandagen gekämpft. Oft genug mit überharten.

Deshalb verwundert es kaum, dass plötzlich Vorwürfe gegen den Herausforderer erhoben werden, und zwar "wegen sexuellem Fehlverhalten während seiner Schulzeit". [2] Eine Israelin, die heute in den USA lebt, bezichtigt Benny Gantz der sexuellen Belästigung, "er soll sich ihr als Jugendlicher angeblich nackt genähert haben. Die israelischen Medien berichteten, dass Likud-Kulturministerin Miri Regev irgendetwas mit dieser Veröffentlichung zu tun gehabt haben soll." [3] Mitarbeiter ihres Büros wären mit der Frau, die die Anschuldigung erhebt, Wochen zuvor in Kontakt gewesen. [4] Gantz wird im Juni 60 Jahre alt, die vermeintliche sexuelle Belästigung liegt rund 40 Jahre zurück.

Genau das sind die Pflöcke, die durch die "MeToo"-Debatte gesetzt wurden: Lange zurückliegende Vorwürfe, gegen die man sich nicht verteidigen kann. Beweise fehlen, es steht Aussage gegen Aussage. Da die Straftaten größtenteils verjährt sind, ermittelt nicht einmal die Justiz. Der "Angeklagte" wird daher auch selten vor ein ordentliches Gericht gestellt, bekommt somit kein faires Verfahren, muss aber fortan mit dem Makel eines Sextäters leben. Zumindest im Fall Gantz ist zu vermuten, dass man nach dem Motto handelt: Irgendetwas wird schon hängenbleiben. Und leider tut es das auch.

Zweites Beispiel: Muss man mit Harvey Weinstein Mitleid haben? Oder muss man ihn hassen? Darum geht es nicht, sondern allein um die Frage, ob er sich schuldig gemacht hat oder nicht. Auch beim ehedem höchst einflussreichen Filmproduzenten lassen sich die meisten Anschuldigungen wohl nicht mehr zufriedenstellend aufklären, gleichwohl gibt es in seinem Fall eine Besonderheit: Weinstein steht in New York vor Gericht. Um nicht missverstanden zu werden: Wenn Weinstein eine Straftat begangen hat, soll er dafür verurteilt werden. Aber er hat, wie jeder andere auch, das Recht auf ein faires Verfahren. So wie es das Gesetz vorsieht.

Allerdings gibt es genau daran Zweifel: "Die Staatsanwaltschaft musste früh einen Anklagepunkt aufgeben, weil Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines mutmaßlichen Opfers aufkamen; später kam heraus, dass ein leitender Ermittler versucht hatte, Zeuginnen zu beeinflussen und eine für Weinstein entlastende Aussage der Staatsanwaltschaft vorzuenthalten." [5] Über das, was ein faires Verfahren ausmacht, gibt es offenbar unterschiedliche Ansichten, jedoch dürfte sich die Sichtweise des leitenden Ermittlers in keinem Gesetzbuch wiederfinden. Aber es kommt noch besser: Ein Verteidiger Weinsteins ist Ronald Sullivan, der an der altehrwürdigen Harvard University als Professor Jura lehrt. Genau, die berühmte Harvard Law School, an der seit 1817 Juristen ausgebildet werden. Wer seinen Abschluss an dieser Elite-Uni macht, braucht sich um seine Karriere wohl keine Sorgen mehr zu machen.

Doch Sullivan hat in Cambridge Probleme mit den Studenten, die Verteidigung Weinsteins soll dort hohe Wellen schlagen. "In einer Online-Petition fordern Studierende, dass Sullivan als Dekan von Winthrop House, einer Art Studentenwohnheim, zurücktritt. Der renommierte Jurist war als erster Afroamerikaner überhaupt in der Harvard-Geschichte zum Leiter einer solchen Fakultät ernannt worden. Im vergangenen Monat protestierten Dutzende Studierende auf dem Campus gegen Sullivan - einige Demonstranten hatten sich in Anlehnung an die Metoo-Märsche den Mund zugeklebt. Zuletzt waren an Gebäuden auf dem Unigelände Anti-Sullivan-Slogans entdeckt worden. 'Unsere Wut ist Selbstverteidigung', hatten Unbekannte an die Mauer eines Gebäudes gesprüht. Und - an Sullivan gerichtet: 'Auf wessen Seite bist du?'" [6]

Man fragt sich unwillkürlich, welches Rechtsverständnis die in Harvard ausgebildeten Studenten haben. Hat nicht jeder, sogar der schlimmste Verbrecher, das Recht auf einen Verteidiger? Muss man ausgerechnet den künftigen Spitzenjuristen Amerikas die Verfassung der Vereinigten Staaten unter die Nase halten? "In allen Strafverfahren hat der Angeklagte Anspruch auf einen unverzüglichen und öffentlichen Prozeß vor einem unparteiischen Geschworenengericht desjenigen Staates und Bezirks, in welchem die Straftat begangen wurde, wobei der zuständige Bezirk vorher auf gesetzlichem Wege zu ermitteln ist. Er hat weiterhin Anspruch darauf, über die Art und Gründe der Anklage unterrichtet und den Belastungszeugen gegenübergestellt zu werden, sowie auf Zwangsvorladung von Entlastungszeugen und einen Rechtsbeistand zu seiner Verteidigung." (VI. Zusatzartikel, Hervorhebung durch den Autor)

Macht sich ein Verteidiger aufgrund seiner Tätigkeit wirklich mit den mutmaßlichen Verbrechen des Angeklagten gemein? Oder steht er nicht vielmehr auf der Seite des Rechts, weil Strafverteidiger den verfassungsmäßigen Anspruch auf ein faires Verfahren gewährleisten und den Rechtsstaat dadurch erst ermöglichen? Angesichts der verqueren Sichtweise der Nachwuchsjuristen wird einem um die amerikanische Justiz angst und bange.

Wenn selbst die künftige Juristenelite der Ansicht ist, in Fällen wie Weinstein von den grundlegenden Prinzipien eines ordentlichen Gerichtsverfahrens abweichen zu dürfen, bestätigt das bloß meine These: Die "MeToo"-Debatte trägt alle Anzeichen von Hysterie und hat den Charakter einer Hexenjagd. Wer so handelt, erweist sämtlichen Opfern von sexueller Gewalt, die es ja tatsächlich gibt, einen Bärendienst. Und das wird am Ende keinem nützen.

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[1] Jüdische Allgemeine vom 28.02.2019
[2] Süddeutsche vom 04.03.2019, Printausgabe, Seite 7
[3] Die Zeit-Online vom 02.03.2019
[4] Times of Israel vom 28.02.2019
[5] Süddeutsche vom 08.03.2019, Printausgabe, Seite 9
[6] Süddeutsche vom 08.03.2019, Printausgabe, Seite 9