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31. März 2019, von Michael Schöfer
Geschichte wiederholt sich durchaus


Ein geflügeltes Wort lautet in recht großzügiger Auslegung von Karl Marx: "Geschichte wiederholt sich nicht - und wenn dann nur als Farce." [1] Dass sich Geschichte durchaus wiederholt, wurde kürzlich bei der Europareise des chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping deutlich.

China bekommt von Seiten der Europäer unfairen Wettbewerb vorgeworfen, wir prangern verschlossene chinesische Märkte und staatlich hochsubventionierte Unternehmen an. China kaufe sich überdies mit seinen Infrastrukturinvestitionen in aller Welt ökonomischen, militärischen und politischen Einfluss. Den Plan "Made in China 2025", in zehn Schlüsselindustrien [2] die Technologieherrschaft zu erringen, interpretieren viele als unverhohlene Kampfansage an den Westen. Schließlich will das "Reich der Mitte" bis zum Jahr 2049 erklärtermaßen zur führenden Industrienation aufsteigen. Chinas Aktivitäten rufen in Verbindung mit seinem totalitären politischen System Ängste hervor. Und das nicht einmal zu Unrecht.

Die historischen Parallelen zur Expansion der Europäer sind unverkennbar. Bekanntlich waren es ja die Europäer, die Amerika und Australien eroberten sowie Afrika und Asien kolonisierten. Der Handel war nur das Einfallstor. Man denke bloß an die berühmt-berüchtigte Britische Ostindien-Kompanie. Den Handelsrechten folgte recht schnell das Recht zur Ausübung der Zivilgerichtsbarkeit und das Recht, militärische Gewalt anzuwenden. Rechte, die auch die nicht minder berühmt-berüchtigte Niederländische Ostindien-Kompanie besaß. Unfaire Handelspraktiken waren üblich. "Um Indien rationell ausbeuten zu können, zerstörten die Briten die bestehenden Strukturen. England schützte sich zeitweilig mit Zöllen von 70 bis 80 Prozent gegen Einfuhren von Baumwolle- und Seidenfertigwaren des blühenden indischen Textilgewerbes. Für britische Textilien in Indien wurden nur zwei Prozent Zoll erhoben. Ergebnis: Binnen weniger Jahrzehnte sanken Indiens Textilausfuhren nach England auf ein Zwanzigstel, die britischen Exporte dieser Branche nach Indien stiegen um 5200 Prozent." [3]

Die Chinesen erweisen sich als gelehrige Schüler, und ironischerweise wenden sie heute ähnliche Methoden an. Ganz so, wie es die Europäer früher gemacht haben - nur eben unter modernen Vorzeichen. Selbstverständlich ist der strategische Plan, bis zur Mitte des Jahrhunderts zur führenden Industrienation aufzusteigen, legitim. Das nennt man gemeinhin Wettbewerb. Und die Chinesen haben das verstanden. Die Forderung von Donald Trump, China möge sein Industrieentwicklungsprogramm aufgeben, ist dreist, schließlich hat der Westen seine globale Vorherrschaft einst ebenfalls vorausschauend geplant. Die britische Herrschaft zur See beispielsweise war kein Zufall, sondern die bewusst herbeigeführte Grundlage zur Eroberung des Empire. Keiner hat das verbriefte Recht, auf ewig an der Spitze zu stehen und niemals herausgefordert zu werden. Das wäre ja so, als würde Bayern München jeden Versuch Borussia Dortmunds, den Rekordmeister von der Tabellenspitze zu verdrängen, als illegal und damit unzulässig bezeichnen. Absurd. Natürlich ist China ein Rivale (genauso wie es die Borussia für die Bayern ist). Und das ist per se nicht verboten.

Die entscheidende Frage ist, ob wir die chinesische Herausforderung erkennen und wie wir adäquat auf sie antworten. Letztlich ist das Ganze keine rein ökonomische Frage, Expansionen sind immer auch ein politisches Problem. Es wäre fahrlässig, dessen Brisanz zu verkennen und sich dabei irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Die Annahme, dass China mit dem ökonomischen Aufstieg zwangsläufig liberaler werden muss, hat sich als Irrtum entpuppt. Das Gegenteil ist eingetreten. Angesichts des totalitären Charakters des chinesischen Herrschaftssystems stellt sich unweigerlich die Systemfrage.

Nach dem "Democracy Index 2018" des Wochenblatts "The Economist" gibt es derzeit 20 vollständige Demokratien, 55 unvollständige Demokratien, 39 Hybridregime und 53 autoritäre Regime. [4] Gradmesser hierbei sind: Wahlprozess und Pluralismus, Funktionsweise der Regierung, politische Teilhabe, politische Kultur und Bürgerrechte. Die Volksrepublik China steht auf dem 130. Platz (von insgesamt 167). Die vollständigen und unvollständigen Demokratien sind zwar in der Minderheit (44,9 % der Länder, 47,7 % der Weltbevölkerung), sie dominieren aber aufgrund ihrer ökonomischen und militärischen Macht den Globus. Zumindest bislang, doch diese Dominanz scheint peu à peu zu schwinden. Der Westen, der China durch die eigene Profitgier erst stark gemacht hat, muss sich die Frage stellen, ob das 21. Jahrhundert demokratisch oder autoritär geprägt sein wird. Wir wissen ja aus eigener Erfahrung, wie es Völkern ergeht, die sich der Vorherrschaft einer fremden Macht beugen müssen.

Insofern sollten wir mehr strategisch denken und nicht stets bloß die kurzfristigen Gewinne zur Richtschnur unseres Handelns machen. China ist mitnichten in erster Linie ein Handelspartner, sondern primär ein politischer Konkurrent, der nach Vorherrschaft strebt. Gewiss, der Anspruch ist aus der Sicht der Chinesen legitim, aber wir müssen uns dem ja nicht demütig unterwerfen. "Quid pro quo", muss das Motto im Umgang mit China lauten. Dies für das. Dazu gehört, auch einmal Nein zu sagen, etwa in puncto 5G-Ausbau und Huawei. Alles andere wäre blauäugig. Entweder spielen alle nach den gleichen Regeln, oder Peking muss die Folgen seines Verhaltens zu spüren bekommen. Entgangene Gewinne sind da langfristig gesehen das kleinere Übel. Immerhin scheint man im Westen diesbezüglich langsam aufzuwachen. Geschichte wiederholt sich nicht? Sie könnte es, wenn wir nicht wachsam sind.

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[1] das korrekte Zitat lautet: "Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce." Projekt Gutenberg, Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon
[2] Maschinen für die Landwirtschaft; Schiffbau und Meerestechnik; Energieeinsparung und Elektromobilität; Informations- und Kommunikationstechnologien der neuen Generation; High-End gesteuerte Werkzeugmaschinensysteme und Robotertechnologie; Elektrizitätsanlagen; Anlagen für Luft- und Raumfahrttechnik; neue Werkstoffe und Materialien; moderne Anlagen für den Schienenverkehr; Biomedizin und High-Performance Medizingeräte
[3] Der Spiegel vom 29.01.1979
[4] The Economist, Democracy Index 2018, PDF-Datei mit 1,6 MB