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21. April 2019, von Michael Schöfer
Man muss sie ja nicht wählen


Politiker verkaufen ihre Wählerinnen und Wähler gerne für dumm, doch bei keinem ist das zuletzt so offensichtlich geworden wie bei Manfred Weber (CSU). Der EVP-Spitzenkandidat träumt davon, nach der Europawahl am 26. Mai EU-Kommissionspräsident und damit Nachfolger von Jean-Claude Juncker zu werden. "Bei der nationalen Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie werden wir Meinungsvielfalt, Urheberschutz und Rechtssicherheit zusammenbringen und sicherstellen, dass es nicht zu Upload-Filtern kommt", steht auf Seite 7 des gemeinsamen Europawahlprogramms von CDU und CSU. [1] Wie die Union Upload-Filter verhindern will, verschweigt sie uns allerdings wohlweislich.

Weber profiliert sich derzeit als entschlossener Kämpfer gegen die Bürokratie. 1.000 überflüssige EU-Gesetze und Vorschriften verspricht er abzuschaffen, künftig soll "kein neues Gesetz verabschiedet werden, das nicht einen Praxis-TÜV durch einen europäischen Normenkontrollrat bestanden" hat. [2] Ich persönlich bin bei großspurigen Versprechen von Politikern immer skeptisch. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass man ihnen selten trauen kann. Wie viele haben beispielsweise vorher hoch und heilig geschworen, die Korruption zu bekämpfen - nur um sich hinterher selbst die Taschen vollzustopfen? "Der neue ukrainische Präsident Petro Poroschenko will die Korruption im Land bekämpfen", hieß es anno 2014. Heute wurde er abgewählt, weil ihn die meisten Wähler für korrupt halten. Sein Nachfolger, Wolodymyr Selenskyj, verspricht ebenfalls, mit der Korruption Schluss zu machen. Schaun mer mal… Außerdem: Der EVP-Spitzenkandidat ist seit 2004 MdEP. Wie vielen seiner Meinung nach "überflüssigen" Gesetzen und Vorschriften er in dieser Zeit wohl zugestimmt hat?

Manfred Weber hat am 26. März im Europaparlament für die Urheberrechtsreform gestimmt. Da hätte er die Chance gehabt, ein Bürokratiemonster zu verhindern. Obendrein ein demokratiegefährdendes. Er hat sie verstreichen lassen. [3] Die CDU-geführte Bundesregierung hätte die Urheberrechtsreform im letzten Augenblick noch verhindern können. Auch sie hat die Chance ungenutzt verstreichen lassen. Putzig ihre groteske Aussage: "Sollte es bei der Umsetzung doch zu einer Beschränkung der Meinungsfreiheit kommen, werde Deutschland auf Korrekturen der Richtlinie dringen." [4] Normalerweise prüft man im Vorfeld, nicht erst danach. Und wahrscheinlich heißt es dann (selbstverständlich augenzwinkernd): "Wir würden die Richtlinie liebend gerne korrigieren, aber die anderen spielen halt nicht mit." Den EU-Mitgliedstaaten bereitet ja schon die vergleichsweise einfache Abschaffung der Zeitumstellung schier unüberwindbare Probleme.

Zudem sind die Upload-Filter, die die Union angeblich verhindern will, längst in Aktion. Der Bericht des Sonderermittlers Robert Mueller, den das US-Justizministerium am 18. März veröffentlichte, ist gemeinfrei (ohne jeglichen Urheberrechtsschutz). Es dürfte wohl unstrittig sein, dass das Dokument für die politische Meinungsbildung extrem wichtig ist. Trotzdem hat die Online-Plattform Scribd den Bericht mehrfach gelöscht und die erneute Veröffentlichung per Upload-Filter verhindert. [5]

Das, was die Kritiker der EU-Urheberrechtsreform immer behauptet, deren Befürworter aber stets brüsk von sich gewiesen haben, wird nun aller Voraussicht nach bittere Realität: Die Upload-Filter behindern die freie Meinungsäußerung. Es geht im Kern gar nicht um Musikstücke oder Filmausschnitte (ebenso wenig wie das Chlorhühnchen der zentrale Einwand gegen TTIP gewesen ist), sondern um das von der Verfassung garantierte Recht, sich aus allen öffentlich zugänglichen Quellen zu informieren, eine eigene Meinung zu bilden und diese anschließend kundzutun. Wenn sogar ein urheberrechtsfreies Regierungsdokument geblockt wird, wie werden die Upload-Filter erst reagieren, wenn sich jemand mit urheberrechtlich geschützten Werken auseinandersetzt (was er nach dem aktuellen Zitaterecht gemäß § 51 UrhG durchaus darf)?

Wir erleben momentan einen beispiellosen Angriff auf die Meinungsfreiheit im Internet. Mit den Upload-Filtern (einer zwangsläufigen Folge der EU-Urheberrechtsreform) ist bereits der Anfang gemacht, mit Horst Seehofers Entwurf zum IT-Sicherheitsgesetz 2.0 geht es munter weiter. Wies der Beschluss des Bundesrates zur Einführung des § 126a StGB noch einen Bezug zum Darknet auf ("deren Zugang und Erreichbarkeit durch besondere technische Vorkehrungen beschränkt … ist"), fehlt dieser Bezug beim Entwurf des Bundesinnenministers. [6] Damit kann potenziell jeder Anbieter von Internet-Leistungen ins Fadenkreuz der Ermittlungsbehörden kommen. Auf eine Beteiligung an illegalen Handlungen kommt es gar nicht mehr an. Selbst wer keine Straftaten oder die Ermöglichung derselben beabsichtigt, macht sich unter Umständen dennoch strafbar. Übertragen auf die analoge Welt wäre das ungefähr so, als würde man den privaten Betreiber einer Autobahn bloß deshalb bestrafen, weil Diebesbanden ihr Diebesgut über seine Autobahn abtransportieren. Schuld ohne aktiven Tatbeitrag - für etwas, das andere getan haben. Solche bewusst weit gefassten und unkonkreten Bestimmungen sind brandgefährlich.

Spielen wir das doch einmal in der Praxis durch: Wenn ich auf meiner Website Werbung für den sogenannten "Islamischen Staat" machen würde, macht sich mein Provider möglicherweise strafbar, schließlich hat er mir eine internetbasierte Leistung zugänglich gemacht, die die Begehung meiner Straftat erleichterte. Zumindest könnten die Gerichte den Gesetzestext so auslegen. Natürlich wird mein Provider dafür nicht haften wollen. Es ist also naheliegend, dass er jeglichen Versuch, Propaganda für den IS zu machen, von vornherein zu verhindern versucht. Das geht logischerweise nur mit einem Upload-Filter. Es besteht freilich in der Praxis die - siehe Mueller-Bericht - nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass selbst ein Artikel, in dem ich mich kritisch mit dem "Islamischen Staat" auseinandersetze (was völlig legal ist), vom Upload-Filter geblockt wird. Konsequenz: Mein Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 5 GG) wird beschnitten.

Weber verspricht vollmundig einen Praxis-TÜV für EU-Gesetze. Gleichwohl hat er der Urheberrechtsreform ohne vorherigen Praxis-TÜV zugestimmt. Die Befürchtungen der Kritiker scheinen ja einzutreffen. Wie bitte, er ist noch kein EU-Kommissionspräsident? Da schau an… Interessanter Standpunkt, jetzt etwas für sinnvoll zu halten, das man ungeachtet dessen erst in ein paar Monaten umzusetzen gedenkt. Einen Praxis-TÜV bräuchten auch die Gesetzentwürfe seines Parteifreundes Horst Seehofer, allerdings ist diesbezüglich von Manfred Weber weit und breit nichts zu hören. Es ist bei ihm wie es bei Politikern häufig vorkommt: Sie versprechen vieles, nur um gewählt zu werden. Doch nach der Wahl sieht plötzlich alles ganz anders aus.

Politiker verkaufen ihre Wählerinnen und Wähler gerne für dumm. Stimmt. Aber man muss sie ja nicht wählen.

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[1] CDU, Europawahlprogramm von CDU und CSU: Unser Europa macht stark. Für Sicherheit, Frieden und Wohlstand, PDF-Datei mit 214 kb
[2] tagesschau.de vom 21.04.2019
[3] das Abstimmungsergebnis der deutschen MdEP bei Abgeordnetenwatch.de
[4] Handelsblatt vom 15.04.2019
[5] Süddeutsche vom 21.04.2019
[6] Netzpolitik.org vom 03.04.2019