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30. Mai 2019, von Michael Schöfer
CDU und SPD bekommen hier kein Bein mehr auf den Boden


Die CDU hat in ihrem einstigen Stammland Baden-Württemberg nicht bloß bei der Europawahl massiv an Zustimmung verloren (landesweit minus 8,5 %), sondern auch bei den am gleichen Tag stattfindenden Kommunalwahlen (Gemeinderatswahlen minus 5,9 %, Kreistagswahlen minus 7,3 %). Von der noch drastischer abgesackten SPD (EU-Wahl minus 9,7 %) ganz zu schweigen. Für die massiven Verluste beider Parteien gibt es natürlich gute Gründe, und die sind hauptsächlich in der konkreten Politik zu suchen. Die Interessen großer Wählerschichten wurden einfach nicht ernst genug genommen oder blieben vollständig unberücksichtigt. Aber die Wahlniederlage ist sicherlich genauso auf den extremen sozialen Wandel zurückzuführen, den unsere Gesellschaft gerade durchmacht. Die ehemaligen Volksparteien haben schlicht und ergreifend den Kontakt zum Volk verloren. Sie sind stehengeblieben, während sich das Land stark verändert.

"Man weiß überhaupt nicht, wie die Leute ticken. Das ist das große Problem", beklagt Hans Rapp, der Vorsitzende der CDU-Seniorenunion in Biberach (32.801 Einwohner). [1] In den Großstädten ist die Entwicklung zweifellos dramatisch: In der Landeshauptstadt Stuttgart hat die CDU 8,9 Prozentpunkte verloren, in Karlsruhe 8,0, in Mannheim 7,0 und in Freiburg 6,5. Mittlerweile sind die Grünen dort zur Mehrheitspartei geworden (in Freiburg, wo noch  2018 ein grüner OB abgewählt wurde, sind sie sogar stärker als CDU und SPD zusammen). Vor allem bei den Jüngeren haben es CDU und SPD ungemein schwer, sie teilen nicht mehr deren Lebensgefühl. Wie denn auch? Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt in beiden Parteien bei 60 Jahren! Überspitzt formuliert: Rentnerparteien treffen auf Digital Natives.

In meinem Stadtteil (Mannheim-Oststadt/Schwetzingerstadt) kann man das vor Ort gut beobachten. Fast wie im Zeitraffer. Die Bevölkerung ist hier sehr heterogen, zwei Fünftel der Einwohner (39,4 %) haben einen Migrationshintergrund und der Altersdurchschnitt beträgt 42 Jahre. Die Schwetzingerstadt (11.041 Einwohner, durchschnittliche Kaufkraft pro Haushalt 28.178 €) ist der ärmere, die Oststadt (13.065 Einwohner, durchschnittliche Kaufkraft pro Haushalt 40.050 €) der wohlhabendere Teil. Die Schwetzingerstadt ist durch monotone Mietskasernen geprägt, während in der Oststadt viele alte Villen, stattliche Bürgerhäuser und neuerrichtete Wohnhäuser stehen. Letztere sind für den kleinen Geldbeutel wenig empfehlenswert.

Dem SINUS‐Institut zufolge ist das expeditive Milieu (die ambitionierte kreative Avantgarde) mit 25,0 Prozent klar in der Mehrheit. Danach kommt das Milieu der Performer (die effizienzorientierte Leistungselite: 15,9 Prozent), das liberal‐intellektuelle Milieu (die aufgeklärte Bildungselite: 13,5 Prozent) und das sozialökologische Milieu (engagiert gesellschaftskritisch: 12,1 Prozent). Das hedonistische Milieu (die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht / untere Mitte) hat einen Anteil von 9,3 Prozent und das adaptiv‐pragmatische Milieu (die moderne junge Mitte) einen von 9,0 Prozent. Das konservativ‐etablierte Milieu (das klassische Establishment), die bürgerliche Mitte (der bürgerliche Mainstream) und das traditionelle Milieu (die Sicherheit und Ordnung liebende ältere Generation) kommen gemeinsam nur auf 13‬ Prozent. [2]

Insbesondere die Schwetzingerstadt hat sich in den letzten Jahren spürbar verändert, seit einiger Zeit gibt es hier neue Geschäfte und Cafes für ein junges, erkennbar liberales und weltoffenes Publikum. Mittlerweile kann man hier sogar rein vegan essen. Vor den Eisdielen sieht man viele Familien mit Kindern, die offenbar großen Wert auf die Umwelt legen. Ein kleines, aber vielsagendes Beispiel: Kürzlich stand in der Eisdiele ein junges Paar vor mir in der Schlange, beide lehnten den vom Verkäufer angebotenen Plastiklöffel ab, stattdessen hatten sie von zu Hause einen Metalllöffel mitgebracht. Einfach so, ohne irgendwie belehrend oder aufdringlich zu wirken. Ich habe so etwas noch nie erlebt und war bass erstaunt, finde das Verhalten aber ganz toll und nachahmenswert. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Es ist hier zwar noch nicht so hip wie am Prenzlauer Berg in Berlin, aber es entwickelt sich in diese Richtung (hoffentlich nicht bei den Mietpreisen).

Der Stadtteil war früher eine Hochburg der CDU (in der Oststadt) und der SPD (in der Schwetzingerstadt), aber es wird meine Leserinnen und Leser kaum verwundern, dass er angesichts der Sozialstruktur heute eine Hochburg der Grünen ist. Bei der am 26. Mai 2019 stattfindenden Europawahl kam die Ökopartei auf satte 33,8 Prozent und bei der gleichzeitig durchgeführten Gemeinderatswahl auf 31,7 Prozent. CDU und SPD liegen weit dahinter. [3] Die Grünen haben ihren Stimmenanteil in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht (von 11,4 % im Jahr 1999 auf 31,7 % im Jahr 2019).

Das spiegelt die Entwicklung in der gesamten Quadratestadt wider: Die ehemalige Arbeiterstadt Mannheim ("das rote Monnem") ist inzwischen zur grünen Hochburg mutiert (von 7,5 % im Jahr 1999 auf 24,4 % im Jahr 2019), und die aktuelle Stimmenkönigin im Gemeinderat ist die 25-jährige Melis Sekmen von den Grünen (sagenhafte 56.030 Stimmen). Wer hätte das gedacht? CDU und SPD jedenfalls nicht. Ich ehrlich gesagt ebenso wenig. Zumindest nicht in diesem Ausmaß und nicht so rasch. Wenn in fünf Jahren wieder gewählt wird, dürfen die Schülerinnen und Schüler, die die Union gerade ordentlich verprellt hat, wählen. Meine Prognose ist: Sofern die Grünen keine kapitalen Fehler machen, werden CDU und SPD den Abstand kaum verringern. Es dürfte eher das Gegenteil der Fall sein, denn beide haben ja schon jetzt den Kontakt zur Bevölkerung und insbesondere zur Jugend verloren. Woher soll denn das passende Lebensgefühl plötzlich kommen?

Anders ausgedrückt: CDU und SPD bekommen hier auf absehbare Zeit kein Bein mehr auf den Boden. Noch ein paar Regulierungsversuche im Internet und weiterhin Ignoranz gegenüber der Klimakatastrophe oder der Wohnungsnot - und der Ofen wird bei diesen Wählerschichten womöglich ganz aus sein. Gewiss, es muss nicht so weit kommen, denn die Gunst des Wählers ist ähnlich wandelbar wie der Mond, aber es kann…

Anstelle von CDU und SPD würde ich in Panik verfallen (oder endlich meine Politik ändern).

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[1] SWR vom 29.05.2019
[2] Stadt Mannheim, Statistische Daten 2018, Schwetzingerstadt/Oststadt, Datenstand: 31.12.2017, PDF-Datei mit 330 kB und Sinus-Institut, Die Sinus‐Milieus, PDF-Datei mit 2 MB