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29. Juni 2019, von Michael Schöfer
Scheinkorrelationen


Wenn man will, kann man alles schönreden und herunterrechnen. Friedrich Breyer (Uni Konstanz und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium) tut genau das. In der Süddeutschen erklärt er uns, dass das mit dem Mietenwahnsinn genau besehen gar nicht stimmt. Von einer allgemeinen Mietenexplosion in Deutschland könne keine Rede sein.

"Das Statistische Bundesamt veröffentlicht jedes Jahr neben dem Verbraucherpreisindex (VPI) einen Mietindex, der auf einer repräsentativen Stichprobe aller Mieter beruht. Hier sind sowohl Bestandsmieten als auch gerade neu abgeschlossene Mietverträge erfasst. Nimmt man das Jahr 2000 als Basisjahr, so ist der VPI bis 2018 um 29,9 Prozent gestiegen, der Mietindex hingegen nur um 24,1 Prozent. In den Jahren 2015 bis 2018, in denen die Klagen über explodierende Mieten besonders laut wurden, stiegen die Verbraucherpreise um 3,8 Prozent und der Mietindex um 4,1 Prozent, also nur wenig schneller." [1]

Das ist natürlich die elitäre Sicht aus dem Elfenbeinturm, weil es den Menschen in den Ballungszentren überhaupt nichts nützt, wenn in Sachsen oder im Saarland noch preisgünstiger Wohnraum zu bekommen ist. Das, was Breyer anführt, sind nämlich die Durchschnittswerte für das gesamte Bundesgebiet. Die Krankenschwester in München wird sich für den Hinweis, in Chemnitz oder Neunkirchen gebe es noch jede Menge bezahlbare Wohnungen, gewiss bedanken, nur kann sie damit wenig anfangen.

Doch Breyer vermag durchaus zu differenzieren: "Starke Mietsteigerungen gab es lediglich in wenigen sogenannten Schwarmstädten und da nur bei Neubauten oder Mieterwechsel." Der Medianwert für die Neu- und Wiedervermietungsmieten ist von 2010 bis 2017 "in 14 Großstädten um 34,1 Prozent gestiegen, in München und Stuttgart um mehr als 40 Prozent und in Berlin um 67,8 Prozent. Allerdings waren die Preise zwischen 2004 und 2010 nur um insgesamt 2,9 Prozent gestiegen, was deutlich unterhalb der allgemeinen Inflation von 9,9 Prozent lag."

Dazu zwei Anmerkungen.

Erstens: Der Verbraucherpreisindex ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zwischen 2010 und 2017 um 9,4 Prozent gestiegen. [2] Angesichts dessen ist festzustellen, dass sich die Neu- und Wiedervermietungsmieten überproportional verteuert haben, in Berlin sogar gut sieben Mal so stark wie die allgemeine Inflation. Nun mag es sein, dass die Neu- und Wiedervermietungsmieten im Zeitraum von 2004 bis 2010 unterdurchschnittlich gestiegen sind, das nützt allerdings den heutigen Wohnungssuchenden nichts. Wer jetzt in Berlin eine Wohnung sucht, hat ja 2004 bis 2010 keinen Cent gespart. Breyer baut hier eine Scheinkorrelation auf, die in der Praxis irrelevant ist. Außerdem verteuern die Neu- und Wiedervermietungsmieten über die ortsübliche Vergleichsmiete sukzessive auch die Bestandsmieten, das Mietpreisniveau zieht also - wenngleich verzögert - generell an.

Zweitens: Die Ehrlichkeit gebietet es, dass man die Mietpreise nicht bloß mit dem Verbraucherpreisindex vergleicht, sondern vor allem mit der Entwicklung der Einkommen, schließlich werden die Mieten aus Letzteren bestritten. Dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zufolge betrug 2017 das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Berlin weniger als 90 Prozent des durchschnittlichen verfügbaren Einkommens in Deutschland. Und: "Gegenüber 2010 erhöhte sich das verfügbare Einkommen je Einwohner um 13,9 Prozent." [3] Wir konstatieren: In Berlin sind die Neu- und Wiedervermietungsmieten fast fünf Mal so stark gestiegen wie das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Einwohner (67,8 % gegenüber 13,9 %).

Die bedrohliche Entwicklung zu verharmlosen, ist zweifelsohne der falsche Weg. Der von Breyer kritisierte Berliner Mietendeckel wird zwar nicht zu mehr Wohnraum führen, aber zumindest für eine temporäre Entlastung der Mieter sorgen. Er soll im Übrigen ausdrücklich nicht für Neubauten und Erstvermietungen gelten, weshalb das Argument, der Mietendeckel würde die Wohnraumknappheit verschärfen, falsch ist. Wohnraum darf nicht wie andere Wirtschaftsgüter dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage unterliegen. Auf ein zu teures Auto kann ich notfalls verzichten oder ein billigeres Modell wählen. Die Alternative zu einer verfügbaren, aber zu teuren Wohnung ist die Obdachlosigkeit. Oder die Vertreibung aus der eigenen Stadt. Professoren wird das wohl erspart bleiben, es ist aber für unser Land wichtig, dass dies auch für Erzieherinnen, Altenpflegerinnen oder Polizistinnen gilt.

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[1] Süddeutsche vom 27.06.2019
[2] Statistisches Bundesamt, Verbraucherpreisindex für Deutschland, 1991 - 2018, 2010: 93,2 Punkte, 2017: 102,0 Punkte
[3] Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Pressemeldung Nr. 93 vom 7. Mai 2019, PDF-Datei mit 115 KB