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10. Juli 2019, von Michael Schöfer
Warum kuschen wir vor Donald Trump?


Warum müssen die Europäer immer vor den Amerikanern und vor dem Rüpel im Weißen Haus kuschen? Kim Darroch, britischer Botschafter in den USA, ist zurückgetreten. Was war passiert? In der Mail on Sunday wurden geheime Depeschen von Darroch an seine Regierung veröffentlicht, in denen der Botschafter den US-Präsidenten als "inkompetent" und "einzigartig dysfunktional" bezeichnete. Die Trump-Präsidentschaft werde "abstürzen" und "schmachvoll enden". Eine Sichtweise, mit der Darroch keineswegs allein dasteht. Im Gegenteil, viele dürften ihm darin zustimmen. Ex-CIA-Chef Leon Panetta sagte kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel faktisch das Gleiche, denn er schätzte die Entscheidungsprozesse in der amerikanischen Regierung als möglicherweise "dysfunktional" ein. [1] Und der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopfe her.

Donald Trump war natürlich über Darrochs Charakterisierung not amused, mit der ihm eigenen Zurückhaltung beschimpfte er den Diplomaten öffentlich als "verrückten Botschafter" und "sehr dummen Typen". Außerdem: "Ich kenne den Botschafter nicht, aber mir wurde gesagt, er sei ein aufgeblasener Dummkopf." [2] Kim Darroch ist seit Januar 2016 britischer Botschafter in den Vereinigten Staaten, und Trump will den Vertreter seines wichtigsten Verbündeten nicht kennen? Die Special Relationship wie weggeblasen? Vollkommen vergessen? Totale Amnesie?

Im März 2018 hat Darroch dem US-Präsidenten nachweislich die Hand gegeben, und zwar bei einer Veranstaltung im Rayburn Room des Kapitols. [3] Im März 2019 saß er dem Botschafter am gleichen Ort am Tisch sogar direkt gegenüber, auch das ist dokumentiert. [4] Und selbstverständlich war Darroch im Juni bei Trumps Staatsbesuch in London an den Gesprächen beteiligt. [5] Interview von Darroch in Trumps Lieblingssender Fox News? Hat Trump vermutlich ignoriert. Man darf unterstellen, dass die Aussage, er kenne den Botschafter nicht, eine seiner zahlreichen Lügen ist. Oder sein Gedächtnis ist tatsächlich so löchrig, womit wir wieder bei "inkompetent" und "einzigartig dysfunktional" wären.

Wie dem auch sei, doch warum existiert diese Kluft zwischen uns und den Vereinigten Staaten? Fast eine wie zwischen Herr und Knecht. Der Botschafter der USA in Deutschland, Richard Grenell, hat sich schon etliche undiplomatische Ausfälle geleistet. Er scheint Deutschland eher als Vasall der USA zu begreifen, ist aber noch immer in Amt und Würden.

WikiLeaks veröffentlichte 2010 geheime diplomatische Depeschen der USA, mehr als 250.000 interne Berichte und Lagebeurteilungen der US-Botschaften in aller Welt an das US-Außenministerium. Oh, là, là, da war was los! Auszüge:

Hamid Karzai, der frühere Präsident von Afghanistan, sei eine "schwache Persönlichkeit", die von "Paranoia" und "Verschwörungsvorstellungen" getrieben werde

Guido Westerwelle, zu jener Zeit Bundesaußenminister, wurde als "inkompetent", "eitel" und "amerikakritisch" beschrieben

CSU-Chef Horst Seehofer sei "unberechenbar" und außenpolitisch weitgehend ahnungslos

Recep Tayyip Erdoğan sei ein machtgieriger Islamist, seine Politiker unfähig, ungebildet und korrupt [6]

Folgen? Jedenfalls keine für die Verfasser der Depeschen, bislang nur für die Überbringer Bradley Manning (heute: Chelsea Manning) und WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Natürlich ist jede Regierung auf solche ungeschminkten Berichte angewiesen, anders kann sie die internationale Gemengelage gar nicht analysieren. Dass aber nun der britische Botschafter Kim Darroch unverschuldet zur Persona non grata wurde, während die amerikanischen Diplomaten seinerzeit keinerlei Konsequenzen zu tragen hatten, legt die Disparität in den Beziehungen zwischen den Europäern und den Vereinigten Staaten offen.

Darroch muss gehen, bloß weil Trump wütend ist? Er hat lediglich seinen Job getan. Wie oft hat der US-Präsident seinerseits andere unflätig beschimpft? Und das öffentlich, mithin absolut undiplomatisch. Joe Biden, einen potenziellen Herausforderer bei der Präsidentschaftswahl 2020, bezeichnete er vor kurzem als "Verlierer" und "Dummkopf". Beleidigungen sind Trumps Markenzeichen, da kommt man beim Zählen gar nicht mehr mit. Und wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Dennoch bleibt die Frage: Warum lassen wir uns Europäer so behandeln? Warum lassen wir uns das gefallen?

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[1] Spiegel-Online vom 27.06.2019
[2] Spiegel-Online vom 10.07.2018
[3] Kim Darroch, Twitter-Post vom 15.03.2018
[4] Kim Darroch, Twitter-Post vom 14.03.2019
[5] Kim Darroch, Twitter-Post vom 04.06.2019
[6] Wikipedia, Veröffentlichung von Depeschen US-amerikanischer Botschaften durch Wikileaks