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17. November 2019, von Michael Schöfer
Wenigstens die Fakten sollten stimmen


Marc Beise, seines Zeichens Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, ist immer mit dabei, wenn es darum geht, die Interessen der Besserverdienenden zu verteidigen. Das bleibt ihm natürlich unbenommen, wenn er dabei bloß nicht immer wieder durch abstruse Vergleiche auffallen würde, die - vorsichtig ausgedrückt - kaum mit den nachprüfbaren Fakten in Einklang zu bringen sind. Andere würden kurz und bündig Fake-News dazu sagen.

Legendär sein Verriss der Steuerpläne von Bündnis 90/Die Grünen: Das Vorhaben der Grünen sei ein "Frontalangriff gegen die bürgerliche Mitte der Gesellschaft", behauptete Marc Beise im Mai 2013 mit Blick auf das damalige Steuerprogramm der Grünen. [1] Er suggerierte seinen Lesern kurz vor der Bundestagswahl, dass Durchschnittsverdiener massiv von Mehrbelastungen betroffen seien. Richtig war jedoch das Gegenteil. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat seinerzeit nämlich die Steuerpläne der Parteien wissenschaftlich begutachtet. Ergebnis: Von den höheren Steuersätzen der Grünen wären lediglich 6,3 Prozent der Haushalte negativ betroffen gewesen. [2] Die bürgerliche Mitte der Gesellschaft? Wohl eher eine privilegierte Minderheit.

Doch Beise lernt nicht dazu, wird durch solche kapitalen Fehler um keinen Deut klüger. Standhaft verteidigt er nach wie vor die Interessen der Besserverdienenden. Nun kritisiert er, dass Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) den Soli für die "Reichen im Land" weiter erhebt. Und erneut greift Beise zu einem abstrusen Vergleich, denn er lässt sich zu der Aussage hinreißen: "...wobei 'reich' nach der Logik der Koalition bereits mit einem besser verdienenden Facharbeiter beginnt." [3] Doch das hat mit den Fakten, wie wir im Folgenden sehen werden, abermals herzlich wenig zu tun. Weiß er es nicht besser? Oder will er es partout nicht besser wissen?

Was sind die Fakten? Eine Familie mit zwei Kindern muss künftig bis zu einem Jahresbruttolohn von rund 151.000 Euro gar keinen Solidaritätszuschlag mehr entrichten. Bei Alleinstehenden liegt diese Grenze bei rund 73.000 Euro. Das sind bei 13 Monatsgehältern monatlich 11.615 (Familie) bzw. 5.615 Euro (Alleinstehender) oder bei 12 Monatsgehältern 12.583 (Familie) bzw. 6.083 Euro (Alleinstehender). Wohlgemerkt: Bis dahin wird künftig kein Soli mehr erhoben!

Für darüber liegende Einkommen gilt: Eine Familie mit zwei Kindern zahlt künftig bis zu einem Jahresbruttolohn von ca. 221.000 Euro einen geringeren Solidaritätszuschlag und oberhalb dessen in gleicher Höhe wie bisher. Bei Alleinstehenden liegt diese Grenze bei ca. 109.000 Euro. Eine Familie mit zwei Kindern zahlt daher erst ab einem Bruttomonatseinkommen von 17.000 (13 Monatsgehälter) bzw. 18.417 Euro (12 Monatsgehälter) den Soli unverändert weiter. Bei einem Alleinstehenden sind es 8.384 (13 Monatsgehälter) bzw. 9.083 Euro (12 Monatsgehälter). Letztere gelten demzufolge als Besserverdienende. [4] Zu Recht!

Die Entgelttabelle des Bankgewerbes weist als höchsten Bruttomonatslohn 4.823,00 Euro aus, in der Eisen- und Stahlindustrie Niedersachsens, Bremens und Nordrhein-Westfalens sind es 4.873,17 Euro. Der höchste Tariflohn in der gut zahlenden Metall- und Elektroindustrie wird im Tarifgebiet Hamburg erreicht: Bruttomonatslohn 6.155 Euro. Und in der chemischen Industrie sind es im Tarifgebiet Baden-Württemberg im kaufmännischen Bereich 6.087 Euro, Facharbeiter verdienen dort maximal 3.955 Euro. [5] (Gegebenenfalls gewährte Sonderzahlungen sind hierbei nicht eingeschlossen.)

Das Bundesfinanzministerium schreibt: "Mit dem Gesetz zur weitgehenden Abschaffung des Solidaritätszuschlags werden 96,5 Prozent derer bessergestellt, die ihn heute zur Lohn- bzw. Einkommensteuer zahlen. Für lediglich 3,5 Prozent derjenigen, die sehr hohe Einkommen beziehen, bleibt es bei der bisherigen Rechtslage." [6]

Angesichts dessen bleibt festzuhalten: Ausweislich der Entgelttabellen werden selbst "besser verdienende Facharbeiter" entlastet. Beises anderslautende Behauptungen sind haltlos. Aber das ist bei ihm (siehe oben) leider nichts Neues. Mich beschleicht der Verdacht, dass seine Kommentare vor allem ideologisch geprägt sind. Um nicht missverstanden zu werden: Unterschiedliche Sichtweisen sind absolut in Ordnung, schließlich leben wir in einer pluralistischen Gesellschaft. Insofern kann er sich für die Besserverdienenden einsetzen, so oft und so lange er das für notwendig erachtet. Aber vom Leiter der Wirtschaftsredaktion der größten Tageszeitung Deutschlands darf man verlangen, dass wenigstens die Fakten stimmen. Das tun sie offenkundig nicht.

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[1] Süddeutsche vom 18.05.2013, Printausgabe, Seite 21
[2] Süddeutsche vom 24.07.2013
[3] Süddeutsche vom 16.11.2019
[4] Bundesfinanzministerium vom 21.08.2019
[5] WSI-Tarifarchiv, Tarifliche Lohn-, Gehalts- und Entgelttabellen 2018, Stand Januar 2018
[6] Bundesfinanzministerium a.a.O.