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18. Januar 2020, von Michael Schöfer
Die doppelte 180-Grad-Wende


Farbenspiel anno 2020: Aus Schwarz wird Grün und aus Grün wird Schwarz. Wie sich aus der wechselnden Perspektive plötzlich auch die Argumente ändern, führen momentan die baden-württembergischen Regierungsparteien vor. Karl Marx ("das Sein bestimmt das Bewusstsein") wird immer wieder bestätigt. Und das geneigte Publikum reibt sich verwundert die Augen.

Was ist passiert? Der Fraktionsvorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, Wolfgang Reinhart, setzt sich für eine Begrenzung der Amtszeiten von Regierungschefs ein: "In der heutigen Zeit der Schnelllebigkeit, des rasanten Wandels und der gravierenden Umbrüche ist das amerikanische Präsidialprinzip genau das richtige System. (…) Angelehnt an dieses Prinzip bin ich für eine Amtsperiode von zwei mal fünf Jahre für Regierungschefs in Bund und Ländern." [1] Seine Forderung habe "nichts mit Herrn Kretschmann persönlich zu tun", versichert er treuherzig.

Nun, ein bisschen mag die Forderung nach einer Begrenzung der Amtszeit doch mit dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu tun haben, schließlich sahen die aktuellsten Umfragen aus dem Herbst 2019 die Grünen bei 30, die CDU hingegen bloß bei 27 Prozent. Vorübergehend standen die Grünen sogar bei erstaunlichen 38 Prozent und konnten ihr Glück kaum fassen. Kretschmann ist einer der beliebtesten Politiker Deutschlands und hat angekündigt, im Frühjahr 2021 noch einmal bei den Landtagswahlen antreten zu wollen. Es wäre bei einem Wahlsieg seine dritte Amtszeit als Regierungschef. Laut einer repräsentativen Umfrage des SWR finden 71 Prozent der Befragten seine erneute Kandidatur gut. Im einstigen CDU-Stammland, die Union regierte Baden-Württemberg zwischen 1953 und 2011 nahezu unangefochten, ist das abermals ein Schlag ins Kontor. Bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten würden sich 69 Prozent für Kretschmann, aber lediglich 13 Prozent für seine Herausforderin Susanne Eisenmann entscheiden. [2] Solche Umfrageergebnisse sind zweifellos niederschmetternd, wenngleich hervorragende Umfrageergebnisse, davon kann jeder Politiker ein garstig Lied singen, noch lange keinen Wahlsieg garantieren. Aber der Trend ist offensichtlich.

Wundern muss der Vorstoß von Reinhart vor allem deshalb, weil es ja in der Vergangenheit gerade die CDU war, die stets mit überlangen Amtszeiten von Regierungschefs geglänzt hat. Konrad Adenauer war 5.144 Tage Bundeskanzler, Rekordhalter Helmut Kohl sogar 5.870 Tage, Angela Merkel liegt mit 5.171 Tagen (Stand: 18.01.2020) dazwischen. In Baden-Württemberg brachten es Hans Filbinger auf fast 12 Jahre (16.12.1966 - 30.08.1978), Lothar Späth auf 12 ½ Jahre (30.08.1978 - 13.01.1991) und Erwin Teufel auf mehr als 14 Jahre (13.01.1991 - 29.04.2005). Allesamt CDU-Ministerpräsidenten, die jeweils vier Kabinette leiteten. Als die Grünen 1980 gegründet wurden und in ihrem ersten Bundesprogramm das Rotationsprinzip (die zeitliche Begrenzung aller politischen Ämter auf maximal zwei Wahlperioden) beschlossen, wurden sie von den Christdemokraten bestenfalls belächelt. Das sei naiv, hieß es damals, was es angesichts der menschlichen Natur vielleicht auch war. Einigen wir uns auf: zu idealistisch. Heute kommt allerdings ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende einer CDU-Landtagsfraktion wieder auf die zeitliche Begrenzung von Amtszeiten zurück. Verkehrte Welt.

Doch es wird noch kurioser: Die Grünen sind längst vom Rotationsprinzip abgerückt (es wurde 1991 endgültig abgeschafft). Dass Andreas Schwarz, seines Zeichens Fraktionsvorsitzender der Landtagsfraktion der Grünen, seinem Koalitionskollegen Reinhart resolut entgegentritt, verwundert dennoch: "Das Volk, die Bürgerinnen und Bürger bestimmen, von wem sie regiert werden wollen und wie lange. Es gibt keinen Bedarf, über weitere gesetzliche Regelungen nachzudenken", bügelte er dessen Ansinnen ab. Eine Position, die ehedem wohl auch Helmut Schmidt oder Helmut Kohl vertreten haben. Schwarz (nomen est omen!) fügte lächerlich machend hinzu: "Kommt als nächstes der Wunsch, dass man die Amtszeit für Abgeordnete begrenzt?" [3] Hallo, ist bei den Grünen schon nach vierzig Jahren die Demenz ausgebrochen? Genau das, nämlich der Wunsch, dass auch die Amtszeit der Abgeordneten begrenzt sein soll, war ja ursprünglich ein grüner Grundgedanke:

Die etablierten Parteien "sind unfähig und nicht willens, neue Ansätze und Gedanken und die Interessen der demokratischen Bewegung aufzunehmen. Wir sind deshalb entschlossen, uns eine Parteiorganisation neuen Typs zu schaffen, deren Grundstrukturen in basisdemokratischer und dezentraler Art verfaßt sind, was nicht voneinander zu trennen ist. Denn eine Partei, die diese Struktur nicht besitzt, wäre niemals in der Lage, eine ökologische Politik im Rahmen der parlamentarischen Demokratie überzeugend zu betreiben. Kerngedanke ist dabei die ständige Kontrolle aller Amts- und Mandatsinhaber und Institutionen durch die Basis (Öffentlichkeit, zeitliche Begrenzung) und die jederzeitige Ablösbarkeit, um Organisation und Politik für alle durchschaubar zu machen und um der Loslösung einzelner von ihrer Basis entgegen zu wirken." [4]

Seinerzeit fiel das unter die Rubrik "Basisdemokratie" - einer von vier ehernen Grundsätzen der Umweltpartei. Die anderen: ökologisch, sozial und gewaltfrei. Wenn das heute ausgerechnet von einem Fraktionschef der Grünen verteufelt wird, lässt einen das zumindest schmunzeln. Die Grünen sind mittlerweile von einer "Parteiorganisation neuen Typs" zu einer stinknormalen Partei geworden - mit allen daraus resultierenden Stärken und Schwächen. Auch bei ihnen gibt es mittlerweile viele, die ihre Pöstchen liebgewonnen haben und sie deshalb mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ganz so krass sollte man sich allerdings nicht von seinen Wurzeln entfernen, denn die Begrenzung von persönlicher Macht und ihre Kontrolle durch die Basis macht ja durchaus auch heute noch Sinn. Im Gegenteil, sie ist offenbar notwendiger denn je. Wer das anders sieht, hat aus Donald Trumps unheilvoller Präsidentschaft nichts gelernt.

Die doppelte 180-Grad-Wende (argumentativ wird aus Schwarz Grün und aus Grün Schwarz) ist jedenfalls symptomatisch für das in Auflösung befindliche politische System: Dem Machterhalt bzw. Machtgewinn wird alles untergeordnet, notfalls sogar die eigene Glaubwürdigkeit. Ein bisschen peinlich finde ich das schon. Für beide Parteien, wohlgemerkt. Wobei in der Politik nach wie vor das fälschlicherweise Konrad Adenauer zugeordnete Bekenntnis gilt: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden." Genau! Ich frage mich bloß, wer hier "klüger" geworden ist? Die CDU, die neuerdings, falls sich Wolfgang Reinhart tatsächlich durchsetzt, das Rotationsprinzip ganz toll findet? Oder die Grünen, die sich von ihren früheren Wurzeln weit entfernt haben und nun in Baden-Württemberg im wahrsten Sinne des Wortes als etabliert gelten?

Vermutlich ist die doppelte 180-Grad-Wende ohnehin nur Ausfluss des üblichen Machiavellismus und beruht nicht auf echter Überzeugung. Man vertritt eben jeweils das, was in der aktuellen Lage taktisch notwendig ist. Die Grünen wollen unbedingt an der Macht bleiben, die CDU wiederum will unbedingt zurück zu den alten Zeiten, in denen sie in Baden-Württemberg die Dominanz besaß. Für jemand wie mich, der in den siebziger und achtziger Jahren politisch sozialisiert wurde, ist das manchmal schwer zu verkraften. Wie wird das erst, wenn Annalena Baerbock oder Robert Habeck im Kanzleramt sitzt? So ätzend wie bei Helmut Kohl und Angela Merkel? Hoffentlich nicht.

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[1] Stuttgarter Zeitung vom 16.01.2020
[2] SWR vom 19.09.2019
[3] SWR vom 17.01.2020
[4] Heinrich Böll Stiftung, Grundsatzprogramm der Grünen von 1980, Seite 5, PDF-Datei mit 8,3 MB, Hervorhebung durch den Autor