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29. April 2020, von Michael Schöfer
Das moralische Dilemma


Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble brachte das moralische Dilemma, in dem unsere Gesellschaft gegenwärtig steckt, auf den Punkt: "'Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.' Auch der Schutz der Menschenwürde schließe nicht aus, dass 'wir sterben müssen. (…) 'Wir dürfen nicht alleine den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen.'" [1]

Wird die Stimmung angesichts der hohen ökonomischen Folgekosten bald kippen? Durch die vom Lock- bzw. Shutdown ausgelöste Wirtschaftskrise werden sicherlich viele Existenzen zerstört. Was wiegt schwerer: Das Recht auf Leben oder das Recht auf ein Leben frei von Armut? Doch bevor wir uns ein Urteil bilden, sollten wir uns noch einmal die Zahlen ansehen:

Bis zum 28.04.2020, 0:00 Uhr, wurden dem Robert-Koch-Institut (RKI) 5.907 COVID-19-Todesfälle gemeldet. 86,57 Prozent davon waren 70 Jahre und älter, der Altersdurchschnitt der Verstorbenen liegt bei 81 Jahren. [2]

COVID-19-Todesfälle nach Altersgruppen (Stand 28.04.2020)
Alter 0-9 10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80-89 90-99 100+
Tote 1
1
6
12 44 186 526 1.368 2.687 1.040 36
Anteil in % 0,17% 0,17% 0,10% 0,20% 0,74% 3,15% 8,90% 23,16% 45,49% 17,61% 0,61%



Die restriktiven Maßnahmen (Lockdown, Shutdown) dienen also vor allem dem Schutz der Älteren. Das heißt aber nicht, dass die Gefahr für die Jüngeren völlig zu vernachlässigen wäre. Das RKI geht davon aus, dass sich, falls der Impfstoff nicht rechtzeitig kommt, bis zum Erreichen der Herdenimmunität 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit SARS-CoV-2 infizieren werden. Es fragt sich bloß, in welchem Zeitraum das geschieht. 70 Prozent von 83.149.300 Einwohnern (Stand: 30.09.2019) sind 58,2 Mio. Menschen. Bislang hätten sich laut dem Virologen Christian Drosten bei der Bevölkerung erst im niedrigen einstelligen Prozentbereich Antikörper gefunden. [3] Dem SPD-Gesundheitsexperten und Epidemiologen Karl Lauterbach zufolge sind hierzulande zwei Prozent mit SARS-CoV-2 infiziert. [4] Das weist auf eine hohe Dunkelziffer hin.

Unterstellt, die zwei Prozent sind richtig, dann wäre die Zahl der tatsächlich Infizierten (ca. 1,66 Mio.) ungefähr 10-mal so hoch wie die der bestätigten Fälle (156.337 am 28.04.2020). Der Anteil der Verstorbenen an den bestätigten Fällen beträgt laut RKI 3,8 Prozent, die Sterblichkeitsrate läge dann gemessen an den tatsächlich Infizierten bei 0,38 Prozent. (Hinweis: In der heftig kritisierten Studie des Virologen Hendrik Streeck wurde sie in Gangelt/Kreis Heinsberg mit 0,37 % angegeben.) [5] Nach jetzigem Kenntnisstand spricht also einiges für besagte 0,38 Prozent. 0,38 Prozent von 58,2 Mio. wären aber immer noch rund 221.000 Tote (neunmal mehr als 2017/2018 die ungewöhnlich starke Grippewelle kostete). Mit so vielen COVID-19-Todesfällen ist früher oder später zu rechnen. Und es führt bis zur Entwicklung eines Impfstoffs auch kein Weg daran vorbei. Würde die Anzahl der Toten schnell ansteigen, sterben wohl wegen der absehbaren Überlastung unseres Gesundheitssystems mehr als 221.000 Menschen. Stichwort: Triage. Genau das macht ja die Einschränkungen zur Abflachung der Kurve so sinnvoll. Jedenfalls aus gesundheitspolitischer Sicht. Bleibt es hinsichtlich der Sterberate bis zum Schluss beim jetzigen Verhältnis zwischen den Altersgruppen, hätten die unter 60-Jährigen ca. 10.000 Tote zu beklagen (4,53 % von 221.000), die über 59-Jährigen dagegen ca. 211.000 (95,47 % von 221.000). Das scheinen momentan die nüchternen Fakten zu sein.

Das moralische Dilemma ist: Wie setzen wir die 221.000 Toten zum ökonomischen Schaden ins Verhältnis? Kann man das überhaupt? In der Süddeutschen hat der Volkswirtschaftsprofessor Harald Uhlig (University of Chicago) den ökonomischen Wert eines Lebens wie folgt beschrieben: "Die volkswirtschaftliche Forschung versucht, den sogenannten Wert eines statistischen Lebens zu bestimmen. Für die USA ergeben sich dabei circa fünf bis zehn Millionen Dollar. Den Wert haben Volkswirte aus den Lohnaufschlägen berechnet, die Arbeiter verlangen, damit sie trotz eines Gesundheitsrisikos bereit sind, gefährliche Tätigkeiten zu übernehmen. Der statistische Wert kann helfen, über die schwierige Abwägung Wirtschaftseinbruch versus Gesundheitskrise nachzudenken." [6] Das mag in den rein aufs Volkswirtschaftliche begrenzten Berechnungen der Ökonomen durchaus zutreffen, wenn allerdings das so taxierte Leben das des Ehepartners oder das des eigenen Kindes ist, sieht das Ganze plötzlich nicht mehr derart emotionslos aus. Erzählen Sie mal einer Mutter, das Leben ihrer Tochter wäre "fünf bis zehn Millionen Dollar" wert, stünde also unter gewissen Umständen zur Disposition. Die haut Ihnen bestimmt alle verfügbaren Gesichtsmasken um die Ohren.

Dennoch ist das genau das, was Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble angesprochen hat. Denn vom Einzelfall abgesehen machen sich viele zu Recht große Sorgen um die ökonomischen Schäden der Corona-Pandemie. Wir dürfen nicht alleine den Virologen die Entscheidungen überlassen... Es zählen nämlich auch noch andere Gesichtspunkte. Und zwar deshalb, weil die Existenzen, die durch die Pandemie vernichtet werden, natürlich ebenfalls in die Waagschale zu legen sind. Auch sie haben genauso wie das Leben des Individuums einen Wert (und nicht bloß einen in Dollar respektive Euro). Wie wir zudem aus der Geschichte wissen, können schwere Wirtschaftskrisen furchtbare politische Konsequenzen haben. Mit einem gravierenden Unterschied: Tote sind endgültig tot, doch Existenzen kann man zumindest potenziell wieder aufbauen. Andererseits ist es - siehe oben - auch ohne SARS-CoV-2 normal, dass Menschen im fortgeschrittenen Alter eine höhere Sterblichkeit aufweisen. Man muss es ja nicht so brutal ausdrücken wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." [7] Nichtsdestotrotz ist Fakt: Jede normale Influenza-Epidemie sucht sich vor allem unter den Älteren ihre Opfer. Von den in der Saison 2017/2018 gemäß Infektionsschutzgesetz ans RKI übermittelten Influenza-Todesfällen traten 87 Prozent in der Altersgruppe der über 59-Jährigen auf, die meisten davon waren 80 Jahre und älter. [8] Banale Erkenntnis: Das Leben ist generell risikoreich und endet ausnahmslos mit dem Tode.

Was folgt aus alldem? Sollen wir die Einschränkungen völlig aufheben? Da würde man Wolfgang Schäuble wahrscheinlich überinterpretieren. Aber er wollte bestimmt darauf aufmerksam machen, welche ökonomischen Schäden die Einschränkungen nach sich ziehen. So zynisch es klingt: Man muss die voraussichtlichen Toten der Pandemie in der Tat dazu ins Verhältnis setzen. Mit Blick auf die armen Länder hat das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen vor Hungersnöten 'biblischen Ausmaßes' infolge der Corona-Pandemie gewarnt. Es sei realistisch, dass mehr Menschen durch Wirtschaftsfolgen der Pandemie sterben als am Virus." [9] So schlimm wird es in den Industriestaaten nicht kommen, doch die Wirtschaftskrise könnte ohne weiteres die Dimension der Großen Depression in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erreichen. Damals waren in den USA bis zu 25 Prozent der Arbeitnehmer arbeitslos, die Durchschnittslöhne fielen um 60 Prozent. Unter dem Strich kann man daher zu der moralisch vertretbaren Entscheidung gelangen, es wäre für die Gesellschaft als Ganzes vorteilhafter, die Einschränkungen wieder zu lockern. Es ist schrecklich, solche unvereinbaren Dinge gegeneinander aufzurechnen, gleichwohl wird es uns voraussichtlich nicht erspart bleiben.

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[1] Süddeutsche vom 27.04.2020
[2] Robert-Koch-Institut, COVID-19-Lagebericht vom 28.04.2020, Seite 6, PDF-Datei mit 1,4 MB
[3] merkur.de vom 28.04.2020
[4] Die Welt-Online vom 27.04.2020
[5] Der Tagesspiegel vom 09.04.2020
[6] Süddeutsche vom 25.04.2020, Printausgabe, Seite 22, online nicht verfügbar
[7] Die Welt-Online vom 29.04.2020
[8] Robert-Koch-Institut, Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2017/18, Seite 46, PDF-Datei mit 9,9 MB
[9] Süddeutsche vom 22.04.2020