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10. Juni 2020, von Michael Schöfer
Was für eine kuriose Diskussion


Dass Politiker, gerne auch welche aus der gleichen Partei, übereinander herfallen, wundert keinen mehr. Dazu ist der Politikbetrieb mittlerweile zu reflexartig geworden. Da wird bloß halb hingehört, aber trotzdem sofort scharf aus der Hüfte geschossen. Ob bewusst oder fahrlässigerweise aus Zeitnot heraus, sei dahingestellt. Vielleicht will man auch keinesfalls die Gelegenheit verpassen, einer ohnehin ungeliebten Parteivorsitzenden gehörig ans Schienbein zu treten. Es geht um die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken und die Reaktionen auf das, was sie jüngst gesagt hat. Oder vielmehr die Reaktionen auf das, was sie nicht gesagt hat. Hier zum besseren Verständnis noch einmal ihre Aussage, wie man sie gestern auf der Website des ZDF lesen konnte:

"Zigtausende Demonstranten in aller Welt stünden auf, weil der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd durch einen Polizeieinsatz in den USA 'kein Einzelfall' sei, sagt Esken den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Und weiter: 'Deutsche Demonstranten schauen aber auch auf die Verhältnisse vor der eigenen Haustür: Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen'. Dabei stehe die große Mehrheit der Polizeibediensteten solchen Tendenzen sehr kritisch gegenüber und leide unter dem potenziellen Vertrauensverlust, der sich daraus ergebe. Bei der Aufarbeitung von Fällen ungerechtfertigter Polizeigewalt dürfe nicht der Eindruck entstehen, der polizeiliche Korpsgeist spiele eine größere Rolle als die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern." [1]

Heute liest man dazu in der Süddeutschen u.a. Vorwürfe aus Eskens eigener Partei: "Mit ihrer Einschätzung stieß Esken unter anderem auch bei einigen SPD-Innenministern auf Kritik. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sagte der Neuen Osnabrücker Zeitung: 'Die absolute Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten in Deutschland hat mit Rassismus absolut nichts am Hut. Ein besonderes strukturelles Rassismus-Problem sehe ich bei der Polizei daher nicht.' (…) Auch SPD-Innenminister der Länder wiesen die Äußerungen von Esken zurück. Zwar gebe es auch in Deutschland in allen gesellschaftlichen Bereichen Alltagsrassismus, sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius. Aber der Polizei zu unterstellen, sie habe ein größeres Problem mit Rassismus als andere Lebensbereiche, sei falsch und setze sie einem ungerechtfertigten Generalverdacht aus." [2]

Können Lambrecht und Pistorius nicht lesen? Oder wollen sie es nicht? "Die absolute Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten in Deutschland hat mit Rassismus absolut nichts am Hut." (O-Ton Lambrecht) Das entspricht in der Substanz haargenau Eskens Aussage: Die große Mehrheit der Polizeibediensteten stehe solchen rassistischen Tendenzen sehr kritisch gegenüber. Vielleicht sollte mal jemand unsere Bundesjustizministerin auf diese keineswegs unwichtige Tatsache hinweisen. Hoffentlich liest Lambrecht Gesetzentwürfe gründlicher als die Äußerungen ihrer Parteivorsitzenden. Und von einem "besonderen strukturellen Rassismus-Problem" der Polizei ist bei Esken überhaupt nicht die Rede, das wird ihr von Lambrecht einfach in den Mund gelegt. Mit dieser dünnen "Beweislage" würde die Bundesjustizministerin vor jedem Gericht scheitern.

Deshalb ist auch der Vorwurf von Pistorius, Esken setze die Polizei "einem ungerechtfertigten Generalverdacht aus", absurd. Da werden ungeprüft die böswilligen Behauptungen konservativer Politiker und Polizeigewerkschafter nachgeplappert. Klug ist das nicht. Für etwas kritisiert zu werden, das man nicht gesagt hat, ist schon bemerkenswert, aber neuerdings leider üblich. Und ist erst einmal der Verdacht in der Welt, bleibt beim oberflächlichen Leser meist auch etwas hängen. "Esken? Ist das nicht die, die unsere Polizei diffamiert?"

Lassen Sie mich das Problem mit einem anderen Beispiel anschaulicher darstellen. Zitat: "Die Zeitung hat ein Problem mit der Rechtschreibung. Doch die meisten Redakteure beherrschen die deutsche Sprache durchaus." Wenn anderntags jemand lospoltert, "es stimmt gar nicht, dass in der Zeitung lauter Legastheniker arbeiten", und dabei auch noch den zweiten Satz des Zitats unterschlägt, was würden Sie dann denken? Bestimmt, dass die Aussage, bei der Zeitung würden lauter Legastheniker arbeiten, eine üble Verleumdung ist. Aber ist das mit den Legasthenikern wirklich so gesagt worden? Denken Sie darüber nach!

Leider zitiert die Süddeutsche Esken in der ersten, unkorrigierten Fassung des Artikels nur halb und lässt darin ihre anderslautende Äußerung kurzerhand unter den Tisch fallen. Da hätte ich mir mehr journalistische Sorgfalt gewünscht - gerade von einem Blatt, das ständig auf den Qualitätsjournalismus hinweist, den es seinen Lesern angeblich bietet. Erst nachdem ich der Süddeutschen eine E-Mail geschrieben habe, wurde auch der zweite Teil von Eskens Aussage nachträglich in den Artikel aufgenommen. Immerhin kann sich der aufmerksame Leser dadurch ein besseres Urteil bilden. Weil aber hierzulande viele Redaktionen ähnlich nachlässig arbeiten, liest man nun landauf, landab Kritik an Esken, die in Wahrheit unberechtigt ist. Soweit ich es wahrgenommen habe, hat lediglich das Neue Deutschland auf diesen Umstand hingewiesen. [3] Ausgerechnet das Neue Deutschland! Das ist für die Pressezunft wenig schmeichelhaft.

Übrigens: Dem Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig zufolge sind rassistische Einstellungen weiter verbreitet, als man gemeinhin denkt. "So ist laut Studie im Osten jeder Dritte, im Westen jeder Vierte 'manifest-ausländerfeindlich' eingestellt." [4] Wenn Boris Pistorius also behauptet, die Polizei habe kein größeres Problem mit Rassismus als andere Lebensbereiche, ist das in meinen Augen dennoch besorgniserregend. Nehmen wir an, die Aussage der Uni Leipzig träfe zu, würde das ja bedeuten, dass in Ostdeutschland ein Drittel und in Westdeutschland ein Viertel der Polizisten ausländerfeindlich wäre. Dann hätten wir schon ein gewaltiges Problem in den Reihen der Sicherheitsbehörden - oder etwa nicht? Ich habe da sowieso einen anderen Anspruch als der Niedersächsische Innenminister: Die Polizei soll kein Spiegelbild der Gesellschaft sein, sie muss vielmehr besser sein als der Durchschnitt der Gesellschaft. Das gilt auch in puncto Rassismus.

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[1] ZDF vom 08.06.2020
[2] Süddeutsche vom 09.06.2020
[3] Neues Deutschland vom 09.06.2020
[4] taz vom 07.11.2018