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01. August 2004, von Michael Schöfer
Der moralische Niedergang

Die Angeklagten im sogenannten Mannesmann-Prozeß haben zwar nach Feststellung des Gerichts mit dem Abkassieren von insgesamt 57 Mio. Euro an Prämien und Pensionsabfindungen gegen das Aktiengesetz verstoßen, doch das sei schließlich nicht strafbar und äußerstenfalls eine Angelegenheit für die Zivilgerichtsbarkeit. Aber wo kein Kläger... Der Untreuetatbestand des Strafgesetzbuches wurde hingegen nach Auffassung der Richter nicht erfüllt. Die rund 30 Mio. Euro, mit denen sich Klaus Esser seinen Abschied bei Mannesmann versüßen ließ, darf er also behalten. In der Öffentlichkeit wurde diese auffallend hohe Prämie permanent mit der angeblich exorbitanten Wertsteigerung begründet, die Esser für seine frühere Firma erwirtschaftet habe. Pikanterweise möchte Vodafone wiederum beim Fiskus die Übernahme von Mannesmann wegen vermeintlicher Wertverluste steuermindernd geltend machen. Aha, beträchtliche Wertsteigerung hier und beträchtliche Wertverluste da? Wie geht das zusammen? Vermutlich gar nicht, aber das ist heutzutage sowieso einerlei. Irgendein Argument wird sich schon finden lassen. Hauptsache man kann, seltsamerweise immer zum Nachteil der Allgemeinheit, kräftig abkassieren.

Wie Jürgen Schrempp. Zwar hat er mit der Fusion von Daimler-Benz und Chrysler sowie der Beteiligung an Mitsubishi etliche Milliarden in den Sand gesetzt, das hinderte ihn allerdings nicht daran, sich sein Gehalt kräftig erhöhen zu lassen. 5,2 Mio. Euro soll er im Jahr 2003 verdient haben - ohne Aktienoptionen. [1] Seine Gesamtbezüge werden mit 7,63 Mio. Euro angegeben. [2] Allein im Jahr 2002 hat sich der Vorstand von Daimler-Chrysler eine Erhöhung seiner Bezüge um sage und schreibe 131 Prozent gegönnt. [3] Kein Wunder, der Firma geht es - dank Mercedes-Benz - wieder blendend, 2003 wurden insgesamt 5,7 Mrd. Euro Gewinn erwirtschaftet. Gleichwohl hat man den Arbeitern im Stammwerk Sindelfingen gerade eine Personalkostenreduzierung von 500 Mio. Euro abgetrotzt, u.a. sinken deren Entgelte ab 2006 um 2,79 Prozent. Großmütig verzichten auch die Vorstandsmitglieder auf 10 Prozent ihrer Bezüge. Gebt mir erst 131 Prozent Gehaltserhöhung, dann verzichte ich generös auf 10 Prozent meines Gehalts - das ist mittlerweile die perfide Taktik der selbsternannten Eliten. Wie gehabt, anderen Wasser predigen, aber selbst Wein saufen. Und die Leute dabei noch für blöd halten.

Der moralische Niedergang und eklatante Realitätsverlust ist jedoch nicht auf die Herren in den Vorstandsetagen begrenzt, er findet sich ebenso beim politischen Establishment. Selbst bei Sozialdemokraten (den Begriff "Sozial" in einem Atemzug mit der SPD zu erwähnen, fällt inzwischen äußerst schwer). Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement ist beispielsweise der Auffassung, daß die Bezieher des Arbeitslosengelds II im Januar 2005 leicht auf eine monatliche Überweisung verzichten können. Na ja, bei den üppigen Beträgen, im Westen monatlich immerhin satte 345 Euro. Wow! Seinem Kalender entnimmt Clement zwar, daß das Jahr zwölf Monate hat, für die Bezieher des Arbeitslosengelds II gelten freilich andere Gesetze. Clement'sche Gesetze. Und danach hat das Jahr für diesen Personenkreis eben nur elf Monate zu haben. Basta. Daß Arbeitslose trotz allem zwölf Monate lang Rechnungen bezahlen müssen, der Clement'sche Kalender hat sich nämlich bei Aldi und Lidl noch nicht völlig durchsetzen können, schert ihn wenig. 1,9 Mrd. will er dadurch sparen. Clement denkt ökonomisch, das merkt man gleich. Doch denkt er auch - wie lautet das nochmal - sozial?

Ich will mir gar nicht ausmalen, was aus einer Gesellschaft wird, die moralisch derart auf den Hund gekommen ist. Ein Blick in die Geschichte zeigt zumindest, daß die Aufkündigung des sozialen Konsenses gleichbedeutend mit dem Beginn des Niedergangs ganzer Kulturen sein kann. Immer waren es einflußreiche Minderheiten, die den Hals nicht voll genug kriegen konnten, für die gerechtes Teilen zum Wohle aller ein Fremdwort bedeutete. Und jedesmal gaben sie sich der naiven Illusion hin, die Mehrheit würde sich arglos ("Es gibt keine Alternative") ihrem Schicksal fügen. Komischerweise haben sich die raffgierigen Eliten stets verkalkuliert, die dummen Lämmer wollten früher oder später nicht mehr widerspruchslos zur Schlachtbank geführt werden. Unfaßbar, sie probten sogar den Aufstand. Will man die Menschen hierzulande wirklich immer tiefer in die Verzweiflung treiben? Einige Herrschaften werden vielleicht bald von ihrem arroganten, selbstgefälligen Gehabe eingeholt. Doch dann kann es zu spät sein. Bedauerlicherweise war man in diesen Kreisen solchen Überlegungen gegenüber selten aufgeschlossen, wie Lemminge rannten sie deshalb ihrem absehbaren Untergang entgegen. Ich denke, man sollte die mittlerweile aufgestaute Wut nicht unterschätzen.

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[1] Manager Magazin vom 28.07.2004
[2] Netscape.de
[3] Frankfurter Rundschau vom 24.07.2004