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08. Februar 2006, von Michael Schöfer
Sind WIR zu dünn?


Seit RTL, von einigen verächtlich als "Unterschichtfernsehen" bezeichnet, das deutsche Fernsehpublikum mit "Deutschland sucht den Superstar" beseelte, sind wir natürlich irrsinnig anspruchsvoll geworden. Klar, daß nun der Konkurrenzsender ProSieben mit einer eigenen Qualitätssendung nachziehen mußte. "Germany's next Topmodel" heißt die Casting-Show, in der Deutschlands Top-Model Heidi Klum jungen Möchtegern-Models "nicht nur wertvolle Insider-Tipps rund um die Arbeit als Top-Model" gibt, sondern auch "als faire Jurorin konstruktive Kritik übt" und "den Mädchen in schwierigen Situationen Trost spendet". [1]

Casting-Shows sind schon von jeher umstritten, sie leben nämlich nicht nur von den vermeintlichen Nachwuchstalenten, sondern ergötzen die Zuschauer obendrein mit der krassen Selbstüberschätzung junger Dilettanten. Die Sendungen leben folglich nicht nur von den Triumphen der Kandidaten, fester Bestandteil des Konzepts ist zugleich das jämmerliche Versagen derselben. Sich vor einem Millionenpublikum der Lächerlichkeit preiszugeben, ist natürlich jedem unbenommen - zumindest sofern er reif genug ist, die unausweichlich bitteren Niederlagen (es kann nur einen geben!) psychisch zu verkraften, woran bei Jugendlichen durchaus gezweifelt werden darf.

"Germany's next Topmodel" kam aber nicht nur angesichts des bescheidenen Niveaus ins Gerede, sondern wurde überdies heftig wegen dem fragwürdigen Schönheitsideal kritisiert, das die Sendung transportiert. Die Möchtegern-Models wurden meist als viel zu dürr bezeichnet, sie seien deshalb für die Jugendlichen als Vorbild völlig ungeeignet ("haben die alle Bulemie?"). Auf die Kritik haben die Kandidatinnen heute mit einem "offenen Brief" reagiert, den "ProSieben" ganzseitig in überregionalen Tageszeitungen abdrucken ließ. [2] "Sind WIR zu dünn?", lautet die Überschrift der Anzeige. Darunter sind die noch nicht ausgeschiedenen, spärlich bekleideten Kandidatinnen zu sehen. "Um es klar zu sagen: Bei den Dreharbeiten muss niemand hungern. Im Gegenteil: Die Buffets sind superlecker. Auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Wir haben eine geile Zeit. Das soll jeder wissen", wehren sich die Mädels im üblichen Zeitgeistjargon.

Zur Beurteilung der Frage, ob die Nachwuchs-Models wirklich zu mager sind, taugt das Foto leider kaum, da uns die Kandidatinnen lediglich mit ihrer Oberweite beglücken. Schönheitsideale sind zudem höchst subjektiv. Doch glücklicherweise stehen uns objektive Daten zur Verfügung, die uns darüber aufklären, wer nun wirklich recht hat. Der "Body Mass Index" (BMI) hat sich allgemein als Maßstab durchgesetzt, mit dem man das Gewicht eines Menschen bewertet. Der Universität Hohenheim zufolge gelten Frauen mit einem BMI von weniger als 19 als untergewichtig, ein BMI von 19 bis 24 wird hingegen als Normalgewicht bezeichnet. [3]

Auf der Website von ProSieben sind sämtliche relevanten Daten der zwölf verbliebenen Kandidatinnen aufgelistet. [4] Anhand dieser Angaben kann man also leicht feststellen, ob sie, wie ihnen wiederholt vorgeworfen wurde, tatsächlich zu dünn sind oder noch Normalgewicht haben. Hier die Ergebnisse:



Von den zwölf verbliebenen Kandidatinnen darf man nur zwei (Andrea und Céline) gerade noch als normalgewichtig bezeichnen. Sie liegen freilich mit ihrem BMI an der untersten Grenze des Normalgewichts. Die übrigen Mädels haben deutliches Untergewicht, bei einigen kann man höchstens noch ihr vergleichsweise junges Alter als Entschuldigung anführen. Doch insbesondere um Micaela (22) muß man sich wegen eines BMI von 16 richtig Sorgen machen.

Die Kritiker der Sendung haben daher objektiv betrachtet vollkommen recht. Die Kandidatinnen sind durchweg zu mager, von einem "normalen" Erscheinungsbild kann hier nachweislich nicht mehr gesprochen werden. Das wäre für sich genommen nicht besonders schlimm, immerhin geht es ja um Nachwuchs-Models. In dieser Branche ist dürr sein bekanntlich Pflicht. Allerdings ist die Vorbildfunktion, die die Kandidatinnen zwangsläufig für viele Jugendliche einnehmen dürften, als hochproblematisch zu bezeichnen. Wer derart abgemagerte Vorbilder präsentiert bekommt, neigt leicht dazu, ihnen nachzuahmen. Und das kann böse Folgen haben.

Insofern mag die Verteidigungsschrift von ProSieben bestenfalls als gedankenloser PR-Gag durchgehen, jedoch keinesfalls als seriöse Replik. Leider haben wir uns, seit es Privatfernsehen gibt, an den permanenten Qualitätsverlust dieses Mediums gewöhnen müssen. Von "Tutti Frutti", der legendären Busen-Show, über "Big Brother" bis hin zu mannigfaltigem öffentlichen Seelen-Striptease grenzdebiler Zeitgenossen - bislang hat das deutsche Fernsehen keine Peinlichkeit ausgelassen. Pisa-Studien zeigen uns dann, welche Auswirkungen dieser mediale Schrott verursacht. Sollten uns Historiker dereinst nach unseren Fernsehprogrammen beurteilen, werden sie uns womöglich als degeneriert bezeichnen. Es sei denn, das Fernsehen hat ganze Arbeit geleistet und Historiker sind bis dahin längst ausgestorben.

Der Kommunikationswissenschaftler und Kulturkritiker Neil Postman, der 2003 im Alter von 72 Jahren verstarb, schrieb 1985 sein nach wie vor äußerst lesenswertes Buch "Wir amüsieren uns zu Tode". Das Internet-Magazin TELEPOLIS veröffentlichte anläßlich seines Todes einen Nachruf. Darin heißt es: "Unermüdlich warnte er seit über 20 Jahren vor einer "Trivialisierung", "Boulevardisierung" und "Infantilisierung" der Gesellschaft durch eine reine Unkultur des bewegten Bildes. Das ununterbrochene Entertainment der kommerziellen Sender liefere eine Bildflut ohne Sinn und Verstand und zerstöre damit die Chance ein Publikum auf rationale Weise mit Informationen und Inhalten zu erreichen. Die Zuschauer säßen wie Affen in einer verschachtelten Guck-Guck-Welt, aus deren Pseudo-Realität es kein Entrinnen mehr gäbe. Emotionen und Vorurteile würden durch Großaufnahmen von brabbelnden No-Names und VIPs gezüchtet, denen auch da, wo sie etwas Substantielles zu sagen hätten, niemand mehr zuhören würde. Nur noch die Form der Show an sich zähle. Das "Infotainment" gefährde die Urteilsbildung der Bürger und bedrohe die Meinungsbildung in Demokratien." [5] Postmans Urteil hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Im Gegenteil, es wird fortwährend aufs neue bestätigt.

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[1] ProSieben
[2] ProSieben
[3] Uni Hohenheim
[4] ProSieben
[5] TELEPOLIS vom 10.10.2003