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05. April 2006, von Michael Schöfer
Der erste April ist doch längst vorbei


Dem Neuen Testament zufolge soll ein gewisser Jesus von Nazaret vor rund 2.000 Jahren im See Genezareth übers Wasser gewandelt sein (Mk 6, 48). So etwas kommt natürlich äußerst selten vor und würde selbst heute große Verwunderung auslösen - zumindest unter der Voraussetzung, daß dabei keine unzulässigen Hilfsmittel verwendet werden. Dies war eines der vielen Wunder, die besagter Jesus von Nazaret, hierzulande auch als "Sohn Gottes" bekannt, begangen haben soll. Genaueres ist darüber allerdings nicht in Erfahrung zu bringen, denn die historischen Quellen sind spärlich. Genaugenommen ist das Neue Testament, auf dem der christliche Glaube fußt, das einzige im weitesten Sinne "historische" Dokument, das über diesen Mann berichtet. Andere, d.h. verläßliche historische Quellen, ließen sich bislang nicht finden. Und so muß man glauben, was in einem einzigen Buch geschrieben steht und zur Grundlage einer Weltreligion wurde.

Schaut man etwas genauer hin, so geben die christlichen Kirchen in ihrem Vorwort offen zu, daß das Neue Testament "etwa zwischen 50 und 120 n. Chr. abgefaßt" wurde. [1] Augenzeugenberichte sind es daher nicht. Das ist genauso, als wäre der erste Spielbericht des Weltmeisterschaftsfinales von 1954 im Jahr 1974 geschrieben worden. Und der letzte würde frühestens im Jahr 2074, also in 68 Jahren, folgen. Könnte man bloß auf mündliche Überlieferungen zurückgreifen, ergäbe das bestimmt einen recht ungenauen Spielbericht. Im Jahr 2074 wüßte man vermutlich gar nicht mehr genau, ob das Finale überhaupt jemals stattgefunden hat oder nicht vielmehr Legende ist. Wenn die Berichterstatter darüber hinaus ausschließlich ungarische Fußballfans wären, würden sie vielleicht sogar Ungarn zum Sieger erklären. Beweisen Sie mal das Gegenteil, nachzuprüfen gäbe es ja nichts. Nun, genau das ist die Situation, in der sich die Verfasser des Neuen Testaments befanden.

Nach Auffassung der Kirche ist das Neue Testament natürlich "unter dem Beistand des Heiligen Geistes abgefaßt worden". Natürlich. Ich möchte ja keine religiösen Gefühle verletzten, aber der Heilige Geist muß bei diesem Beistand ziemlich verwirrt gewesen sein. Greifen wir ein Beispiel heraus: Im Neuen Testament gibt es zwei Stammbäume Jesu, der erste bei Matthäus (Mt 1, 1-17) und der zweite bei Lukas (Lk 3, 23-28). So weit, so gut. Im ersten Stammbaum wird die Linie der Vorfahren von Jesus auf Abraham zurückgeführt, den Stammvater der Juden. Im zweiten wird die Linie bis zu Adam gezogen. Betrachtet man die Linien aber eingehender, so stellt man unweigerlich fest, daß sie nicht übereinstimmen. Welcher Stammbaum ist also richtig?

Außerdem war Jesus, sofern es ihn je gegeben hat, unzweifelhaft Jude. Im Judentum wird die Abstammungslinie aber nicht, wie im Abendland üblich, über den Vater, sondern über die Mutter zurückverfolgt. Klar, nur ihre Elternschaft läßt sich zweifelsfrei nachweisen, die Beteiligung des Vaters ist mehr oder minder Glaubenssache. DNA-Analysen waren damals noch unbekannt. Sind die Jünger Jesu, obgleich angeblich selbst Juden, nicht mit der jüdischen Tradition vertraut gewesen? Offensichtlich. Überdies basiert doch der christliche Glaube im wesentlichen auf der Vaterschaft Gottes. Was soll dann folgende Passage: "Jakob war der Vater von Josef, dem Mann Marias, von ihr wurde Jesus geboren, der der Christus (der Messias) genannt wird." Josef ist nach der Doktrin der Kirche bestenfalls der Stiefvater von Jesus. Die Abstammung ausgerechnet über ihn zu führen, ist daher völlig sinnlos und widerspricht der zentralen These des Christentums.

Putzig sind die Versuche mancher Wissenschaftler, die Existenz von Jesus oder dessen Wunder naturwissenschaftlich zu untersuchen. So will man etwa seinen Gang über das Wasser des Sees Genezareth mit einer neuen Theorie erklären. Jesus wandelte danach nicht übers Wasser, sondern über eine Eisscholle. In der Region um den See kam es in "den letzten 12.000 Jahren wahrscheinlich immer wieder zu überraschenden Eisbildungen", schreiben sie. Zwar sei "es in der jüngeren Geschichte dort nicht mehr zu solchen Wetter-Phänomenen gekommen. Vor 1500 bis 2500 Jahren, als die Atmosphären-Temperatur mindestens drei Grad niedriger lag als heute, war das aber sehr wahrscheinlich immer wieder der Fall." Jesus, so die überraschende Schlußfolgerung, sei nach einem solchen Kälteeinbruch über Eis gegangen, das die Beobachter für Wasser und den ganzen Vorgang deshalb für ein Wunder gehalten haben. [2]

Überzeugend ist diese Erklärung nicht, mit ihr wird das vermeintliche Wunder keineswegs plausibler. Ob es überhaupt jemals zu tragfähigem Eis auf dem See Genezareth gekommen ist, bleibt denn auch nach wie vor offen. Die Autoren der Theorie hangeln sich von Wahrscheinlichkeit zu Wahrscheinlichkeit. Fakten? Fehlanzeige! Wer unbedingt an die im Neuen Testament beschriebenen Wunder glauben will, ist auf solch windige Hypothesen eh nicht angewiesen. Und skeptische Zeitgenossen werden weiterhin skeptisch bleiben. Liebe Bibel-Forscher, sucht nur weiter nach rationalen Erklärungen. Leonardo da Vinci (1452 - 1519) hat, zumindest auf dem Papier, einen Hubschrauber entworfen. Warum nicht auch Jesus? Das würde wenigstens die Himmelfahrt erklären. Oder greift man besser auf Erich von Dänikens Ufo-Hypothese zurück? Damit wäre sie auf jeden Fall komfortabler. Aber was wird das letztlich beweisen? Nichts.

Lassen wir also die, die unbedingt an Wunder glauben wollen, ruhig an sie glauben. Bitteschön, jeder wie's ihm beliebt. Doch verschont uns mit pseudowissenschaftlichen Erklärungen. Alle derartigen Versuche sind bislang kläglich gescheitert. Nicht ohne Grund. Ernsthaft betrachtet ist Religion Quatsch und allenfalls psychologisch zu erklären. Von der seriösen Wissenschaft ist sie schon so zerpflückt worden, daß man kaum noch analysierbare Einzelteile finden kann. Mich wundert bloß, daß es "Bibel-Forscher" dennoch immer wieder in die Zeitungsspalten schaffen. Gut, das Interesse an News wird bekanntlich nicht von deren Wahrheitsgehalt bestimmt, sonst müßten manche Blätter weiße Seiten abgeben. Die Eisschollen-Theorie bildet hier keine Ausnahme. Ein Aha-Effekt - mehr wird am Ende wohl nicht hängen bleiben.

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[1] Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1983, Seite 9
[2] Süddeutsche Zeitung vom 05.04.2006