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03. September 2007, von Michael Schöfer
Wo bitte geht’s zum Paradies?


Das letzte Hemd hat keine Taschen. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir einmal sterben, können wir zumindest keine materiellen Dinge mitnehmen. Und gestorben ist bislang noch jeder. Was also bleibt von unseren durchschnittlich 70 oder 80 Erdenjahren? "Mein Haus, mein Pferd, meine Jacht" sicherlich nicht. Höchstens immaterielle Dinge, Erfahrungen zum Beispiel. Seltsam, dass wir dennoch zu Lebzeiten hauptsächlich mit der Anhäufung materieller Güter beschäftigt sind, die dort, wo wir hingehen, sowieso nicht zu gebrauchen sind. Was nützt uns ein über viele Jahre hinweg angehäuftes Bankguthaben, wenn es in der restlichen Zeit, während wir tot sind, vollkommen nutzlos ist? Das liegt wohl vor allem daran, weil wir höchst unsicher sind, ob es überhaupt ein Leben nach dem Tod gibt. Zwar versprechen uns die meisten Religionen irgendeine Form von Paradies, aber richtig daran glauben tut so gut wie keiner, sonst würden wir uns wahrscheinlich ganz anders verhalten. Weniger materiell eben. Diesseitiger Materialismus ist wenigstens konkret, man kann ihn anfassen. Und was ich habe, das habe ich. Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Später sieht man weiter. Vielleicht kann man sich fürs Jüngste Gericht einen guten Anwalt besorgen.

Als überzeugter Atheist lehne ich natürlich alle jenseitigen Heilsversprechen prinzipiell ab. Ich kann durchaus damit leben, dass meine Existenz dereinst unwiderruflich zu Ende sein wird. Gleichwohl, und nur zur Sicherheit, falls es doch so etwas wie ein Paradies geben sollte, möchte ich hier schon einmal meine Wünsche äußern. Ich bin ziemlich sicher, dass es im Paradies ganz anders zugeht, als etwa beim "Münchner im Himmel". Die Ansicht, man müssen dort den ganzen Tag nur Halleluja singen oder ständig niederknien und beten, beruht gewiss auf einem krassen Vorurteil. So ein Paradies wäre nämlich stinklangweilig und somit schon wieder die Hölle. (Dazu später mehr.)

In meinen Träumen liegt das Paradies in einer sonnendurchfluteten Parklandschaft. Mächtige Bäume spenden Schatten, unter denen man sich auf gepflegtem Rasen (ohne Hundescheiße!) niederlassen kann. In der Mitte des Parks steht eine riesige Bibliothek, in der alle Bücher vorhanden sind, die jemals geschrieben wurden. Wichtig: inklusive Update-Service. Das heißt, alle künftig erscheinenden Werke werden nachgereicht. Steter Nachschub ist somit gewährleistet. Und Zeit zum Lesen habe ich nach meinem Tod mehr als genug - den Rest der Ewigkeit. Selbstverständlich hat diese, im antiken Baustil errichtete Bibliothek einen Internet-Anschluss. Wesentlich schneller als VDSL, und die PCs sind zum Glück mit einem funktionierenden Betriebssystem ausgestattet (demzufolge keinesfalls Vista). Dort kann man sich zusätzliche Infos besorgen, bei der Online-Ausgabe der "Daily Heaven" mitarbeiten oder mit Albert Einstein chatten (falls er dazu Lust hat). Mein Paradies beinhaltet auch eine Einrichtung, die unserem einschlägigen Vorurteil über den orientalischen Harem recht nahe kommt. Lechz! Hey, ein Paradies ohne Sex ist in meinen Augen keins. Der Herrgott, sofern es ihn wirklich gibt, weiß das schon einzurichten. In Wahrheit ist der alte Herr bestimmt nicht so prüde, wie ihn seine selbsternannten Stellvertreter auf Erden hinstellen. Schließlich kann man nicht immer nur lesen...

Diese Art Paradies würde ich bevorzugen. Andere hingegen würden sich darin tödlich langweilen. Meiner Vorstellung nach bekommt deshalb jeder das, was er braucht. Das Paradies ist nämlich kein Topf, in den man alle unterschiedslos hineinwirft. Nein, jeder bekommt seinen eigenen, aufs jeweilige Individuum abgestimmten Bereich zugeteilt. Motorsportfans beispielsweise kommen in den Paradiesbereich "Nürburgring", wo sie sich ordentlich austoben dürfen. Auf der Rennstrecke, versteht sich. Völlig gefahrlos, denn tot sind sie ja bereits. So verliert die berühmt-berüchtigte Nordkurve ihren Schrecken. "Gentlemen, start your engines!" Disco-Gänger können im himmlischen "Sabbat Night Fever-Tempel" rund um die Uhr abtanzen, Konzert-Fans unzählige Male die Gitarrensoli von Jimi Hendrix bewundern oder lauthals bei Janis Joplins "Mercedes Benz" mitsingen. "Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz? My friends all drive Porsches..." Klavierstunden gäbe es ebenfalls. Selbst absolut Unbegabte lernen in 100.000 Jahren einigermaßen Beethovens "Für Elise" spielen. Wetten? Sogar an Alkoholiker ist gedacht: Wer an einer Leberzirrhose gestorben ist, darf im himmlischen Weinberg ohne Reue weitersaufen. Hat nicht Papst Benedikt XVI. von sich behauptet, er sei bloß ein "demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn"? Na also, wo es Weinbergarbeiter gibt, gibt es folglich auch Weinberge.

So wird jeder glücklich. Und das dauerhaft. Nun, sagen wir fast jeder, denn es gibt naturgemäß auch Sünder, die für ihre Taten büßen müssen. Das Gegenstück, die Hölle, ist allerdings mitnichten ein dunkler Ort, in dem die Verdammten über dem Feuer geröstet werden. Nein, die Hölle ist viel subtiler, wenngleich nicht weniger wirkungsvoll. Menschen vom Schlage einer Paris Hilton kommen bestimmt in den Bereich "Abendakademie - Grundkurs Philosophie". Neoliberale müssen mitten im Winter unter der Brücke schlafen und sich ständig Vorlesungen über "Eigenverantwortung" und "Flexibilität" anhören. Ihr Wunsch nach einer warmen Decke wird als "Anspruchsdenken" gebrandmarkt. Bankmanager dürfen allenfalls noch eine Pommesbude führen, und einstmals mobbende Chefs werden gezwungen, als Azubi im Betrieb ihrer früheren Untergebenen anzufangen. Richtig irdisch ist es in der Hölle. Womöglich denken wir Erdlinge bloß, uns stünde die Hölle noch bevor. Wenn man es genau betrachtet, stecken wir vielleicht - ohne es zu ahnen - mittendrin. Nach einer anderen Theorie besteht die Hölle darin, irrtümlich im falschen Paradiesbereich zu landen. Sozusagen ein himmlisches Versehen. Stellen Sie sich vor, Sie landen bei den Fernsehfreaks und müssten sich für den Rest ihres Todes RTL oder SAT1 ansehen. Schrecklich!

Aber es gibt einen Ausweg. Da man über das Paradies vortrefflich spekulieren kann, ist alles möglich. Falls es uns dort irgendwann einmal langweilig werden sollte, immerhin ist das im Laufe von Jahrmilliarden nicht völlig auszuschließen, werden wir einfach wiedergeboren. Und das Ganze fängt von vorne an. In diesem Fall sage sogar ich (rein rhetorisch): Oh Gott...