Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



19. April 2010, von Michael Schöfer
Alles halb so schlimm


Natürlich sind die Folgen des Vulkanausbruchs auf Island für die auf den Flughäfen gestrandeten Passagiere und für die von der Sperrung des Luftraums betroffenen Airlines schlimm. Zweifellos ist es ärgerlich, wenn man einen Urlaub gebucht hat, aber nicht abfliegen kann. Und dass Angela Merkel zwei Tage lang durch halb Europa irrte, bis sie wieder an ihrem Schreibtisch saß... Reden wir nicht darüber, Homers Odyssee ist wesentlich spannender. Ich will die Auswirkungen der Vulkanasche gar nicht kleinreden, aber zumindest ein bisschen relativieren, denn das Ganze ist in meinen Augen halb so schlimm. In Nord- und Mitteleuropa leben wir doch, was Naturkatastrophen angeht, wahrlich auf der Insel der Glückseligen. Ab und zu im Herbst ein heftiger Orkan, Lothar lässt grüßen, und alle paar Jahre ein "Jahrhunderthochwasser" - mehr ist bei uns im Grunde nicht los.

Andere sind da bekanntlich viel schlimmer dran: Vor kurzem bebte etwa in Tibet die Erde, bis jetzt hat man 1.500 Tote und 12.000 Verletzte gezählt. [1] Mehr als 100.000 Menschen sind obdachlos, und das bei Minustemperaturen und eisigem Wind. Da es den Tibetern darüber hinaus in der Regel an Hausratsversicherungen mangelt, stehen Zigtausende buchstäblich vor dem Nichts. Erinnern Sie sich noch an die mehr als 200.000 Toten und an die 1,5 Mio. Obdachlosen des Erdbebens in Haiti? [2] Das ist gerade drei Monate her. Allein in Rio haben die sintflutartigen Regenfälle Anfang des Monats 151 Menschen das Leben gekostet sowie 14.000 obdachlos gemacht. [3] Ganz zu schweigen von den zahlreichen Katastrophen, über die bei uns gar nicht bzw. bloß in einer Randnotiz berichtet wird.

Andernorts haben Naturkatastrophen auf die Menschen oft verheerende Folgen. Ohnehin nicht auf Rosen gebettet, ist bei den Überlebenden meist auch noch deren Existenz ruiniert. Im Vergleich dazu sind unsere jetzigen Probleme doch geradezu harmlos, keiner wurde obdachlos, keiner ist gestorben. Im Gegenteil, das größte Problem der Behörden auf Island sind vermutlich die zahlreichen Schaulustigen, die sich das Naturschauspiel live ansehen wollen. Ende März besuchten nach Schätzungen der Polizei etwa 25.000 Schaulustige den Vulkan, inzwischen ist das Gebiet weiträumig abgesperrt. Angeblich hat eine Gruppe von Gourmetköchen aus Reykjavik auf der heißen Lava sogar gekocht - zum Preis von 350 Euro inklusive Anflug mit dem Hubschrauber. [4] Das erinnert mich eher an Dolce Vita. Oder fällt so etwas schon unter den Begriff "spätrömische Dekadenz"? Wie auch immer, wirkliche Katastrophen sehen jedenfalls anders aus.

Zum Glück haben wir BILD, die sagt uns nämlich, was passiert, wenn der Vulkan noch länger Asche spucken sollte.
  • 1 Woche: "Luxusgüter, wie Austern, Hummer und kanadischer Lachs werden knapp."
  • 3 Monate: "Riesige Lkw-Staus verstopfen Autobahnen."
  • 1 Jahr: "Eine Pleitewelle erfasst die gesamte Wirtschaft: Der Im- und Export bricht zusammen, Fabriken haben keine Ersatzteile und Rohstoffe. Explodierende Massenarbeitslosigkeit! Dem Staat drohen erhebliche Steuerausfälle - und mehr Sozialausgaben! Die globale mittlere Temperatur verändert sich weiter, sinkt bis zu 2 Grad weltweit ab. Das Weltklima wird großflächig beeinflusst. Schnee bleibt bis Juni liegen! Es kommt eher zu Unwettern und in manchen Teilen der Welt zu Hungersnöten und Seuchen." [5]
Das, meine Damen und Herren, wäre in der Tat eine echte Katastrophe. Aber wahrscheinlich geht die an uns genauso vorüber wie die Schweinegrippe, über die spricht heute keiner mehr. Übrigens, auch vor der hatte das Boulevardblatt eindringlich gewarnt. "65.000 Briten könnten an der Schweinegrippe sterben!" [6] Reine Panikmache, wie sich hinterher herausstellte. Die Realität: In ganz Europa gab es bislang lediglich 4.763 Tote. [7]

Sie werden sehen, in vier Wochen liegen Sie am Strand von Teneriffa und fragen sich: Vulkanausbruch? War da nicht was? By the way, Teneriffa ist ebenfalls eine Vulkaninsel. Also viel Spaß dort.

----------

[1] Basler Zeitung vom 18.04.2010
[2] Neue Zürcher Zeitung vom 31.03.2010
[3] Süddeutsche vom 09.04.2010
[4] Die Welt vom 18.04.2010
[5] BILD vom 18.04.2010
[6] BILD am 17.07.2009
[7] WHO vom 09.04.2010