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26. Juni 2010, von Michael Schöfer
In Wahrheit geht es um Umverteilung


Deutschland und die USA liegen im Clinch - zumindest wirtschaftspolitisch. Angela Merkel will am strikten Sparkurs ihrer Regierung festhalten und unbedingt die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhalten. Für den Bund gilt danach ab 2016 eine Neuverschuldungsgrenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Bundesländer dürfen ab 2020 überhaupt keine Schulden mehr machen. Die Wirtschaftspolitik der Bundeskanzlerin orientiert sich weiterhin am bisherigen Geschäftsmodell: Wachstum beim Export, Flaute auf dem Binnenmarkt.

US-Präsident Barack Obama wiederum hält den Berliner Sparkurs, dem die anderen EU-Staaten notgedrungen folgen müssen, für extrem konjunkturschädlich. Die Zeit, die schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme zurückzufahren, sei noch nicht gekommen, sagt man in Washington. Daher empfehlen die Amerikaner, im Interesse des Wirtschaftswachstums bis auf weiteres keinesfalls zu sparen.

Die USA nehmen in diesem Haushaltsjahr laut Etatentwurf 1,56 Billionen Dollar neue Schulden auf, was 10,6 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung entspricht. In der Bundesrepublik rechnet man neuerdings mit 60 bis 65 Mrd. Euro, was auf ein Haushaltsdefizit von etwa 5 Prozent hinauslaufen würde. Deutschland erreicht 2010 voraussichtlich eine Schuldenquote (kumuliertes Defizit in % am BIP) von 79 Prozent, die USA kommen wahrscheinlich auf 92 Prozent.

Natürlich streitet sich die Zunft der Ökonomen heftig darüber, wie es jetzt konkret weitergehen soll. Obama wird von der einen Seite abwertend als "der letzte Keynesianer" bezeichnet, während andere in Merkel die gelehrige Schülerin von Reichskanzler Heinrich Brüning sehen. Wie dem auch sei, jedenfalls existieren diesseits und jenseits des Atlantiks scheinbar unvereinbare Vorstellungen. Und der Bürger steht davor wie der Ochs vorm Berg und weiß nicht weiter. Einerseits ahnt er, dass man sich buchstäblich zu Tode sparen kann, andererseits verursacht die steigende Staatsverschuldung in seinem Gedärm ein unüberhörbares Rumoren. Im Grunde hätte er gerne beides: Wirtschaftswachstum und gleichzeitig Schuldenabbau. Was er am Ende wirklich bekommt, bleibt vorerst offen.

So unterschiedlich die Ansätze in Amerika und Europa sein mögen, sie haben zumindest eines gemeinsam: In beiden Regionen wachsen die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten beträchtlich. Und das seit Jahren. Vielleicht ist das sogar des Pudels Kern.

Hier ein kleiner Überblick über das, was man dazu in den letzten Tagen lesen konnte:

"Laut Welt-Vermögens-Bericht gab es Ende 2009 weltweit zehn Millionen Menschen mit einem liquiden Vermögen von jeweils mindestens einer Million Dollar. (…) Zusammen besaßen sie 39 Billionen Dollar, das sind rund 19 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Das Vermögen der weltweit 93.000 Superreichen wuchs sogar um 22 Prozent auf insgesamt fast 14 Billionen Dollar. Als superreich gilt, wer mehr als 30 Millionen Dollar besitzt. (…) In Deutschland ist die Zahl der Millionäre im Jahr 2009 auf 861.000 angewachsen. Das sind 51.000 oder 6,4 Prozent mehr als noch im Vorjahr." Spitzenreiter sind die USA, in denen fast 2,9 Mio. Millionäre leben (ein Plus von 16,5 %), gefolgt von Japan mit 1,65 Mio. (ein Plus von 21 %). "Die USA, Japan und Deutschland halten zusammen mit 53,5 Prozent weiter mehr als die Hälfte des Vermögens der weltweit Reichen und Superreichen." [1] Den Reichen und Superreichen geht es inzwischen wieder so gut wie vor der Weltwirtschaftskrise. Etwas, von dem der Normalbürger nur träumen kann. Noch schlimmer: Die Politik hat den Begüterten buchstäblich den Arsch gerettet, die Zeche zahlen allerdings hauptsächlich Arbeitnehmer und Arme. Das angeblich "sozial ausgewogene" Sparprogramm von Schwarz-Gelb lässt nämlich die Reichen vollkommen außen vor.

"Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) lag das gesamte Bruttovermögen der privaten Haushalte in Deutschland im Jahr 2007 bei rund 8 Billionen Euro. Grund- und Immobilienbesitz machte dabei mit 5,3 Billionen Euro den größten Teil aus. Im Vergleich zu 2002 wuchs der Wert des Bruttovermögens um mehr als 1,1 Billionen Euro. Die Verbindlichkeiten der privaten Haushalte - vorrangig Konsumenten- und Hypothekarkredite - beliefen sich im Jahr 2007 auf gut 1,4 Billionen Euro. Nach Abzug dieser Verbindlichkeiten ergibt sich ein Nettovermögen der privaten Haushalte von insgesamt 6,6 Billionen Euro." [2] Zum Vergleich: Die gesamten Staatsschulden betrugen Ende 2009 1,762 Billionen Euro. Leider ist das Vermögen höchst ungleich verteilt: Das reichste Prozent verfügte 2007 (neuere Daten liegen nicht vor) über 23 Prozent des Nettovermögens, die obersten 5 Prozent über 46 Prozent und das reichste Zehntel über 61,1 Prozent. Demgegenüber besaßen die unteren 70 Prozent bloß 8,8 Prozent des Nettovermögens, 27 Prozent hatten gar kein Vermögen oder waren sogar verschuldet.

"Befreit von allen Gleichheitsidealen, reißen die Reichen in den USA immer mehr Wohlstand an sich. Die Mittelschicht löst sich auf", analysiert Nobelpreisträger Paul Krugman die Situation in seinem Heimatland. "Offizielle Erhebungen belegen, dass ein wachsender Einkommensanteil an die oberen 20 Prozent der Familien fließt, und innerhalb dieser Schicht besonders an die obersten fünf Prozent, während die Familien in der Mitte immer weniger abbekommen. (…) In der amerikanischen Gesellschaft vor 1930 kontrollierten wenige Superreiche einen Großteil des Wohlstandes. Eine Mittelklassegesellschaft wurden wir erst, nachdem sich die Einkommenskonzentration während des New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt und besonders während des Zweiten Weltkriegs auflöste. (…) Bis in die siebziger Jahre blieben die Einkommen relativ gleichmäßig verteilt: Der rapide Anstieg der Einkommen der ersten Nachkriegsgeneration verteilte sich gleichmäßig auf die Gesamtbevölkerung. Seit den siebziger Jahren klaffen die Einkommen allerdings zunehmend auseinander. Und die großen Gewinner sind die Superreichen." [3]

Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das gilt für Europa wie für die USA. Doch genau daran wird nicht gerüttelt, es kommt höchstens zu kosmetischen Korrekturen, die der Masse Sand in die Augen streuen sollen. In Wahrheit geht es also gar nicht um den Streit Sparpolitik (Europa) oder Schuldenpolitik (USA), es müsste vielmehr um eine spürbare Korrektur der Einkommensunterschiede und um die Umverteilung des vorhandenen Vermögens gehen. Wenn man auf Kosten der ärmeren Schichten spart oder Schulden anhäuft, die am Ende wieder von den weniger Begüterten abgetragen werden, läuft das letztlich aufs Gleiche hinaus. Warum ist das, was Franklin D. Roosevelt schaffte, heute nicht mehr möglich? Bedauerlicherweise haben dafür weder die Amerikaner noch die Europäer die richtigen Politiker gewählt. Und wenn man sieht, wer in letzter Zeit politisch von der dadurch erzeugten schlechten Stimmung profitiert (Niederlande: 15,5 Prozent für den Rechtspopulisten Geert Wilders; Ungarn: 16,7 Prozent für die rechtsextreme, juden- und zigeunerfeindliche Partei Jobbik; USA: Erstarken der Tea-Party-Bewegung), dann ist das mehr als nur beunruhigend. Es ist ein Alarmsignal.

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[1] Der Tagesspiegel vom 22.06.2010
[2] Bundeszentrale für politische Bildung
[3] Die Zeit vom 13.10.2008